GERD MAAS

Archiv 2009/2010

Gebeuteltes Land

November 2010 – Es ist ja schon schwer nachvollziehbar, weshalb man für etwas so Simples wie Reiskochen die Plastiktüte von Onkel Ben oder anderen ausgekochten Ausbeutlern braucht. Für eine eklatante Käufergruppe scheint aber inzwischen sogar die Portionierung und Zubereitung von Nudeln eine unbeherrschbare Herausforderung geworden zu sein, so dass Birkel jetzt auch die Pasta eingesackt hat. Wird einem davon übel, hat man wenigstens gleich eine Tüte zur Hand.

Denksport

November 2010 – Telefongewinnspiel auf Sat1 während einer Fußballübertragung: „Was ist die Lieblingsinsel der Deutschen?: A. Mallorca oder B. Wertstoffinsel.“ – Ah, welch unerwartetes Gespür für tiefsinnige Ironie beim privaten Fernsehen. Wo vordergründig scheinbar die totale Verblödung Einzug hält, werden wohl tatsächlich die großen Daseinsfragen auf den Punkt gebracht: Mallorca oder Wertstoffinsel? – Volle oder leere Flasche? Wegsein oder Wegwerfen? Ruhestand oder Wiederverwertung?

Auf kleiner Flamme

November 2010 – Nach Schätzungen der Betriebskrankenkassen leiden heute in Deutschland angeblich neun Million Menschen an Burn-out (Quelle: Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information). Der Wohlstand frisst seine Kinder? – Merkt denn wirklich niemand mehr, wie vollkommen unrealistisch inflationär wir uns selbst der Überforderung bezichtigen? Neun Millionen, das wäre ein Viertel aller deutschen Arbeitnehmer! Laut Weltbank müssen beinahe drei Milliarden Menschen auf der Welt mit weniger als zwei US-Dollar regionaler Kaufkraft auskommen und sich dafür in aller Regel Tag für Tag ausweglos rund um die Uhr schinden und gerade wir brennen in unserer durchschnittlichen 35,8-Stundenwoche massenhaft aus? Natürlich bedeutet ein Durchschnitt, dass auch bei uns viele deutlich mehr leisten müssen – die davon hauptsächlich Betroffenen, wie Selbständige, Landwirte oder akademische Berufe, beklagen aber gerade besonders wenig ihre Belastungen. Nein, nicht das Leiden-Müssen nimmt bei uns zu, es verschieben sich die Grenzen des Erträglichen. Was für die Betroffenen natürlich auf das Gleiche hinausläuft, aber nicht für die moralische Verpflichtung zur Beihilfe aus der Solidargemeinschaft. Aber auch darüber hinaus kann es uns nicht egal sein: Auf welchen starken Schultern wollen wir denn eine Zukunft bauen, wenn bald jegliche Verpflichtung zur Quelle scheinbar unbewältigbarer Überforderung wird?

Nackte Tatsachen

November 2010 – Gemäß der aktuellen Studie Risks and Safety on the Internet des EU Kids Online Network (www.eukidsonline.net) hat ein Viertel der europäischen Kinder (9 bis 16 Jahre) im letzten Jahr pornografische Bilder oder Videos im Internet angeschaut – jeder zwanzigste regelmäßig mehr als einmal die Woche. Der Durchschnitt wird erwartungsgemäß von den Teenagern deutlich nach oben gedrückt, aber auch unter den 9- bis 10-Jährigen waren es 11 Prozent und unter den 11- bis 12-Jährigen 18 Prozent die im vergangenen Jahr online Pornos angeschaut haben. Bei der Allgegenwart und Unverhohlenheit derartiger Inhalte im Web ist das wenig verwunderlich. „Ich hab mit Cedric online gespielt und wir gerieten in irgendwas wie Sex und es war überall auf dem Bildschirm“, meinte ein 11-jähriger belgischer Junge. Wie dicht unsere Kinder an Hardcore-Sites beim Surfen dran sind, kann sich jeder selbst einfach vor Augen führen: Geben Sie „Teen“ bei der Bildersuche von Google ein und schalten Sie (mit zwei Klicks neben der Eingabezeile) SafeSearch aus.
Besonders erschreckend ist aber die Unbedarftheit der Eltern. Von den Kindern, die mit pornografischen Inhalten konfrontiert gewesen waren, wussten es zwei Drittel der Eltern nicht beziehungsweise gingen sogar 41 Prozent ausdrücklich davon aus, dass so etwas bei ihren Kindern nicht vorkomme. Nicht das Internet ist riskant, sondern die mangelnde Auseinandersetzung mit diesem Medium. Wer seine Kinder – laut dieser Studie – täglich durchschnittlich eineinhalb Stunden surfen lässt und dann nicht einmal ahnt, was ihnen da alles unterkommt, der muss sich Verantwortungslosigkeit oder Bequemlichkeit vorwerfen lassen. Ohne Auseinandersetzung mit den modernen Medien, nur mit Medienkonsum, wird der Cyberspace zum moralfreien Raum der Contentprovider-Interessen und die Informationsgesellschaft zur Horrorvision.

Auge um Auge

Oktober 2010 – Kennen Sie das Problem auch: müde Männeraugen. – – Nein? Tja, ich eigentlich auch nicht. Ganz abgesehen davon, dass ich mir zwar einen müden Blick, aber nur schwer müde Augen vorstellen kann. Wie auch immer, wer morgens dumm aus der Wäsche guckt, kann sich jetzt den Men Expert Hydra Energy Augen Roll-on von L'Oréal Paris aufs Auge drücken lassen. Das Ergebnis (laut Herstellerangaben): Die Augenringe wirken wie aufgehellt. Schau mir auf die hellen Ringe, Kleines.

Sprühender Geist

Oktober 2010 - Die Volksverdummung eskaliert. Sarrazin hat irgendwie doch recht: Es scheint zumindest erblich zu sein, dass wir nichts dazulernen.

Schweig Bub

Oktober 2010 – Für jeden fünften deutschen Nachbarschaftsstreit ist Kinderlärm der Grund (repräsentative FORSA-Umfrage 2010 im Auftrag der Techniker Krankenkasse). Besonders bedenklich, da doch die Kinder eh immer mehr Zeit still am Fernseher, dem Computer oder mit der Spielkonsole verbringen. Zugegeben, Kindern Grenzen zu setzen, kommt offensichtlich immer mehr aus der Mode, wohl auch was das Lärm-Machen betrifft. Aber ebenso, und das ist hier eigentlich ausschlaggebender, die Selbstverständlichkeit der Anwesenheit von Kindern.

Das Kind an sich ist Rarität geworden. Das Laut gebende schon gleich gar. In München zum Beispiel leben in 83,3 Prozent der Haushalte keine Kinder (Stand: 2008). Da darf nur des Deutschen liebstes Kind, Krach machen – das Auto.

Wie groß ist deiner?

Oktober 2010 – „Der PS-Knick im letzten Jahr durch die vielen Klein- und Kompaktwagenverkäufe ist ausgebügelt“, meint das Center Automotive Research in der ZEIT vom 9. September 2010. Da wäre doch letztes Jahr glatt zu befürchten gewesen, dass die deutschen Autokäufer abwrackprämiengetrieben zur Vernunft gekommen sind: Die mittlere Leistung der verkauften Neuwagen war 2009 von 131 auf 118 PS gesunken. Doch in der ersten Jahreshälfte 2010 jagen die nagelneuen Potenzkrücken schon wieder mit durchschnittlich 130 PS durchs Dorf – Tendenz weiter steigend.

1.721.162.000.000

September 2010 – 1,72 Billionen Euro explizite Schulden der öffentlichen Haushalte zum 30.6.2010. Allein im ersten Halbjahr eine Steigerung von 1,7 Prozent. Eigentlich nichts Neues. Es wird ja eh immer mehr. Peer Steinbrück hat mal auf die Frage, was er angesichts der stetig ausufernden Staatsverschuldung seinen Kindern zu tun empfehlen würde, gemeint: Dagegen demonstrieren! – Wo sind sie geblieben?

Soziales Netz

September 2010 – Jetzt ist es passiert. Der Zugang zum Internet ist zum Menschenrecht avanciert. Zu Hause offline ist menschenunwürdig. Die neue Berechnung der Hartz IV-Sätze berücksichtigt ausdrücklich einen eigenen Internetanschluss für das soziokulturelle Existenzminimum. Der Gang zu einem öffentlichen Zugang – etwa in Büchereien, bei Arbeitsagenturen, in Jugend- und Stadtteilzentren oder in Volkshochschulen *) – ist offenbar existenziell unzumutbar. Es drängt sich die Frage auf, ob das, genauso wie die GEZ-Befreiung, im Hinblick auf eine erfolgreiche Wiedereingliederung ins Erwerbsleben nicht eher kontraproduktiv wirkt. Ganz zu schweigen davon, dass beim Glotzen und Surfen von einem Gebot der Solidarität wohl kaum die Rede sein kann.

*) 147 öffentliche Stellen mit kostenlosem Internetzugang gibt es zum Beispiel in Berlin (Quelle: Webkatalog der Stiftung Digitale Chancen)

Möge die Macht mit euch sein

September 2010 – Power-Balance heißt die Jedi-Macht für jedermann. Ein Stück Silikon, vorzugsweise am Arm getragen, „in einem speziellen Prozess hergestellt“ bei dem ein „Mylar-Hologramm programmiert wird“, um „den natürlichen Energiefluss des Körpers zu optimieren“. Das Original Power Balance ® Armband kostet entsprechend mächtige (merke: Preis wirkt als Qualitätsindikator) 39,90 Euro – bei Herstellungskosten eines besseren Weckgummis. Laut der italienischen Tageszeitung La Stampa „ist das wundersame Objekt am Puls von Fußballspielern, Filmstars und gekrönten Häuptern wie der Infantin der spanischen Krone gesehen worden“. Nun wusste schon Esther Vilar in Der betörende Glanz der Dummheit, dass Berühmtheit nicht unbedingt mit Intelligenz korreliert: „Die auf dem Gipfel sind – in der Regel – die Beschränkteren, sonst kämen sie nicht hinauf.“ Werner Bartens zählt dementsprechend in der SZ-Reihe „Medizin und Wahnsinn“ Folge 142 auch Arjen Robben, Christiano Ronaldo, Rubens Barrichello und David Beckham zu den künstlich Ausbalancierten.

Zur Verdeutlichung dieses Irrsinns, oder besser gesagt dieses kommerziellen Geniestreichs, noch einmal La Stampa: „… die Mode greift um sich und eine Welle von Videos über das ‚Gleichgewichtsarmband‘ überflutet das Web. (Vor allem Jugendliche, die auf einem Bein balancieren, während andere sie zu Fall zu bringen versuchen. Bandträger bleiben stehen, die anderen verlieren das Gleichgewicht. Was wie ein Sketch wirkt, ist ein von den Herstellern zum Beweis der Wirksamkeit des Mechanismus empfohlenes Experiment.)“ (Quelle www.eurotopics.de vom 27/07/2010)

Vermutlich muss ich gar nicht mehr erwähnen, dass Doppel-Blindtests, wenn weder Proband noch Versuchsleiter wissen, ob sie wirklich ein „echtes“ Power Balance-Produkt haben, natürlich keinen Beleg für die Wirkung bringen. Wer noch genauer hinter die Raffinesse dieser Marketingstrategie schauen will:
http://www.csicop.org/si/show/power_balance_technology/

Ich spüre eine Erschütterung der Macht.

Geschmacklos

September 2010 – Von August bis zum 19. September hatte Coca-Cola Light in Deutschland das Diamantenfieber ausgerufen. Wer die richtige Brauseflasche erwischte, konnte einen von 66 Diamanten gewinnen. An sich schon ein wenig moralisches Werbetreiben mit der Gier nach edlem Tand. Just während der öffentlichkeitswirksamen Zeugenaussagen von Naomi Campbell und Mia Farrow beim Prozess gegen Liberias Ex-Diktator Charles Taylor aber eine mehr als geschmacklose Aktion. Taylor war tief verwickelt in den Handel mit illegal geschürften Diamanten. Um an diese Blutdiamanten zu kommen, unterstütze er im Bürgerkrieg von Sierra Leone die Revolutionary United Front, deren Markenzeichen es war, bei Überfällen auf Dörfer den Bewohnern Gliedmaßen abzuschneiden. Zehntausende starben, etwa 20.000 Verstümmelte fristen heute ihr Dasein in einem der ärmsten Länder der Welt. Daran hat sich auch wenig dadurch geändert, dass heute Diamanten aus Sierra Leone größtenteils wieder legal gehandelt werden. Wenn skrupellose Diktatoren fehlen, die die Wertschöpfung heimlich absahnen, schaffen Konzerne den Reichtum ganz legal außer Landes. Angesichts des nachhaltigen Leidens infolge der mit Diamanten finanzierten Massaker, der tödlichen Armut in den afrikanischen Quellenländern und menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen beim Schürfen klebt Blut wohl nicht nur an ausgesprochenen Blutdiamanten. Ihre Geschichte ansehen kann man den Steinen sowieso nicht. Aber denken kann man sie sich und dann als Verbraucher entsprechend handeln.

Nicht schwitzig

August 2010 – „Von der Stirne heiß / Rinnen muss der Schweiß / Soll das Werk den Meister loben“. Zu den Zeiten, als Schiller Das Lied von der Glocke dichtete, war Schwitzen noch ein Gütesiegel der Qualität. Heute sucht man Anstrengung verschämt zu verbergen. Heute haben „ablenkende peinliche Schweißflecken im Leben und unter den Achseln aktiver Menschen keinen Platz“ mehr. Damit einem der gegebene Müßiggang auch anzusehen ist, kann man sich jetzt Hygienebinden unter die Arme klemmen. MY DRY TM Achselpads. Vor den Erfolg habe die Mode-Götter das Schweißpad gestellt. In Watte gepackt – einzeln eingeschweißt, für 50 Cent am Tag.

Klaufen

August 2010 – Entsprechend den regelmäßigen Untersuchungen des EHI Retail Institute werden im deutschen Einzelhandel jedes Jahr Waren im Wert von 2,8 Milliarden Euro von Kunden und Mitarbeitern gestohlen (2 Milliarden von Kunden, 800 Millionen von Mitarbeitern). Rein rechnerisch durchschnittlich rund 70 Euro Diebesgut jährlich pro Haushalt. Die Liste der beliebtesten Beuteartikel zeugt von den Beweggründen: Spirituosen, Kosmetik und Tabakwaren, Markenklamotten, Accessoires und Dessous sowie Konsolenspiele, CDs, DVDs, Speicherkarten und Druckerpatronen. Es soll da bitte keiner sagen, dass ihm das Leben keine andere Wahl gelassen hätte. Genussraub nicht Mundraub. Selbst die grundlegendsten Axiome eines gedeihlichen Zusammenlebens werden ohne Not dem puren Amüsement geopfert.

In Aloe Veritas

August 2010 – „Aufgrund meiner persönlichen Erfahrung mit vielen Kunden in den letzten Jahren und auch meiner eigenen besiegten Krebserkrankung“, so beginnt die verbriefte Anpreisung der selbsternannten Vitalstoff- und Vitalitätstrainerin Amata B. aus Ottobeuren für Aloe Vera Hautpflegeprodukte vom Multi-Level-Marketing-Unternehmen Forever-Living-Produkte anpreist. Aloa-he / Aloe-he / Ich glaub daran / Dass keiner ohne / Creme leben kann.

Es ist schon arg, wenn jemand für ein paar Prozent Extra-Bonus bereit ist, mit dem Leben selbst zu experimentieren. Wirklich schlimm ist es aber, dass Frau B. das macht, weil es funktioniert. Nicht das Produkt, sondern das Verkaufen funktioniert. Forever-Living hat nach eigenen Angaben 9,5 Millionen willfährige Handlanger, genannt Distributoren, in 145 Ländern. Allein die deutsche GmbH hatte zu Spitzenzeiten (2003) 135,5 Millionen Euro Umsatz ausgewiesen.

Während uns die Mühelosigkeit unseres modernen Lebens, das fürsorgliche öffentliche Gesundheitswesen und eine immer bessere konventionelle medizinische Versorgung rapide steigende Lebenserwartungen beschert, suchen viele scheinbar gerade zum Trotz nach immer abstruseren Behandlungen für die wirklichen und noch mehr für die eingebildeten Wehwehchen. Es muss einem schon verdammt gut gehen, dass er es sich leisten kann, sich den eigenen gesunden Menschenverstand derart verreiben zu lassen.

Volksbildung 2010

Tarot – Bilder der Seele (Kurs R1300, VHS Moosburg)
„Tarotkarten lassen die Bilder der Seele sichtbar werden und bringen uns so mit unserer inneren Stimme, unserer Seelenweisheit in Kontakt. Die Antworten, die wir mit Hilfe der Karten erfahren können, bringen Licht und Klarheit in die eigenen ‚Lebensschritte‘“.

Einflussfaktor Erdstrahlen – über die Bedeutung der Erdstrahlen in unserem Leben (Kurs 1140, VHS Werl - Wickede (Ruhr) – Ense)

Pendelpraxis I (Kurs N12303, VHS Mainz)
„Mit Hilfe des Pendels können Sie u.a. Lebensmittel, Medikamente etc. auf Verträglichkeit testen.“

Psychologische Astrologie nach Hermann Meyer – Planvoller Umgang mit Mars im Transit (Kurs 1002-28, VHS Frankfurt)

Das Tiroler Zahlenrad (VHS Kröv-Bausendorf)
„Die Zahlen unseres Geburtsdatums sagen etwas über unsere Persönlichkeit aus. … Die Einzelzahlen eines Datums, die Kombination der Zahlen und schließlich die Häufung der Zahlen zeichnen ein Bild der Persönlichkeit, die an diesem Tag geboren wurde.“

Schamanische Krafttiersuche (Kurs 11009, VHS Villingen-Schenningen)
„Das Krafttier ist eine Art virtueller Tierfreund und es steht ‚seinem‘ Menschen helfend zur Seite.“

Einführungskurs Einhandrute (Kurs 4870, VHS Donauwörth)
„Erlernen der Grundkenntnisse nach Körbler – kosmische Gesetze, Meditationen. Wie kann ich Wohnung, Lebensmittel, Medikamente harmonisieren?“

Indigo- / Kristallkinder (Kurs Y10801, VHS Cuxhaven)
„Seit 1968 werden auffallend viele hochtalentierte Kinder geboren, die unfassbare Fähigkeiten haben, aber nicht in unser Schulmuster passen und dort sehr große Schwierigkeiten haben. …
Vor allem Eltern von Kindern, die ungewollt entdecken, dass das Kind ‚besondere Fähigkeiten‘ hat. (Häufig hellseherisch, medial, besteht darauf Farben zu sehen, leichte Rechenaufgaben nicht kann - schwierige sofort. etc.)“

Chakra-Behandlungen mit Edelsteinen (Kurs 3028, VHS Kaltenkirchen)
„Chakren sind feinstoffliche Energiezentren im Körper, durch die unsere Lebensenergie fließt. Energetische Blockaden in den Chakren können unser Wohlbefinden beeinträchtigen, … In diesem Tagesseminar erfahren Sie, welche Aufgaben unsere Chakren haben, wie Blockaden sanft gelöst und die Chakren mit Edelsteinen energetisiert werden können.“

Die Aura des Menschen, sichtbar und fühlbar? Haben Sie schon einmal eine Aura gesehen? (Kurs 11206, VHS Haar)
„Könnte jeder die Aura sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen, pendeln oder sonst wie wahrnehmen? … Gibt es Löcher in der Aura? Hat jeder Mensch die gleichen Aurafarben? Sie bekommen Aurafotographien und andere Darstellungen des menschlichen Energiefeldes zu sehen.“

Schafskälte

Juli 2010 – Fernsehen macht doch nicht blöd! In Millionen Deutschen ist nach vier Wochen WM-Telekolleg die erstaunliche Erkenntnis gereift: In Afrika ist im Sommer Winter (obwohl es die gleiche Uhrzeit wie bei uns ist)!
Ob das wohl am Klimawandel liegt? Bei solchen Erwägungen müssen viele in Deutschland um den eigenen Sommer gefürchtet haben. Wie anders lässt sich erklären, dass die Bundesbürger trotz Hitzerekorden Pullover hamsterten. Kaschmirpullover. Babykaschmir. Der blaue Jogi-Löw-Glücks-Wunderpulli von Strenesse. Anfang Juli war das Teil landesweit ausverkauft und in vielen Läden wurden/werden Wartelisten geführt. Kein Wunder beim Glücksschnäppchenpreis von 199 Euro. Wenn’s schee macht. Ich kaufe, also bin ich.

Virtualize Erdbeereis

Juli 2010 – Wie wird das Leben jenseits des Internets sein? Die Frage ist falsch gestellt. In der virtuellen Realität endet nichts. Der Google-Cache vergisst nichts, YouTube blendet nichts aus, Facebook löscht nichts, Twitter verschweigt nichts. Es gibt kein danach mehr.
Same player shoots again. Ein ausführlicher Essay über die zunehmende Virtualisierung unseres Lebens:

Der Essay als pdf [93 KB]

Sprachlos

Juli 2010 – Artikel 42, Absatz 1, Satz 1 Grundgesetz: „Der Bundestag verhandelt öffentlich.“ Tatsächlich wurden zum Beispiel in der vergangenen 16. Legislaturperiode von rund 15.500 Reden mehr als ein Viertel nicht gehalten (genau 4.429), sondern nur schriftlich zu Protokoll gegeben. Von einer öffentlichen Verhandlung kann da wohl keine Rede sein. Doch selbst wenn das Plenum tagt, heißt das noch lange nicht, dass man es immer Verhandeln nennen könnte. Dazu müssten die Abgeordneten ja mehrheitlich anwesend sein. Und nicht nur physisch, sondern auch geistig. Unter Parlamentariern aller Couleur grassiert aber Smartphonobie. Auch während den Sitzungen wird eifrig gesimst, getwittert, gemailt und was sich noch alles mit Zwei-Daumen-Technik unterm Tisch verarbeiten lässt. Laut dem Vorsitzenden des Geschäftsordnungsausschusses des Bundestags, Thomas Strobel (CDU), gibt es aber eigentlich eine Übereinkunft der Bundestagsfraktionen, dass „die Nutzung von Laptops, von Handys, das Telefonieren im Plenarsaal selbst unerwünscht ist“. Bei derart zur Schau getragener Gleichgültigkeit, ja Missachtung der demokratischen Institutionen, wen wundert da noch die wachsende Politikverdrossenheit in der Bevölkerung. Der Fisch stinkt vom Kopfe her.

Safer Luggage

Juni 2010 – Endlich braucht man sich um seinen Koffer während einer Flugreise keine Sorgen mehr zu machen. In was für üble, vielleicht sogar schlecht riechende Gesellschaft konnte er bisher im dunklen Gepäckraum geraten, ganz zu schweigen von den obszönen Betatschungen der gemeinen Packarbeiter. Schluss damit, auch am Frankfurter Flughafen kann man jetzt die harte Kofferschale in weiche Folie einschweißen lassen. Safer Luggage – Gib der Umwelt keine Chance!

(Weltweit werden jährlich 225 Millionen Tonnen Plastik hergestellt und davon wird nach Gebrauch ein Großteil nicht recycelt. Es ist bisher nicht absehbar, dass Plastik in der Umwelt verrotten würde oder durch irgendwelche Mikroorganismen abgebaut wird. Daher werden zum Beispiel die Weltmeere zunehmend mit Plastik verschmutzt. Durch Sonneneinstrahlung und Wellenbewegung wird dort der Plastikmüll nach und nach fein wie Plankton zerrieben und gelangt dann in die Nahrungskette unserer Speisefische – und bei uns auf den Teller.)

Sch... WM

Juni 2010 – Edeka verkauft zur Fußball-WM Klopapier mit Rasenduft, was einen unmittelbar an Franz-Otto Krüger und Wilhelm Bendow auf Loriots Rennbahn erinnert: „Achtung, jetzt geht’s los! Jetzt geht’s los! – Jetzt laufen sie, 1, 2, 3, sie laufen, sie laufen. – Jetzt finishen sie!“ – – „Sie finishen – direkt auf’n Rasen?“
Bendows berühmtes, darauf folgende „ja wo laufen sie denn“ kann man heute angesichts solcher Konsumauswüchse durchaus als Sinnfrage unserer modernen Gesellschaft verstehen.

Siehe hierzu auch: Fan-Marmelade (Heidelbeer-Blutorange-Mandarine), das inzwischen zu jedem halbwegs populären Anlass unvermeidliche Langenscheidt-Wörterbuch, hier: „Fußball – Deutsch, Deutsch – Fußball“ (Gerhard Delling – ganz ohne Netzer), ein schwarz-rot-goldener Trinkerhelm (mit Dosenhaltern und Schlauchleitung), Fan-Dirndl (1.700 Euro), Strass-Trillerpfeife, Ballerinas (ein Paar = drei Schuhe in drei Farben), deutschlandfarbige Teelichthalter und sogar der seinerzeit für jeden Opel Manta obligatorische Fuchsschwanz ist in einer schwarz-rot-goldenen Variante wieder auferstanden.
Auch die Haustiere werden anlässlich der WM wieder zur konsumtiven Selbstinszenierung missbraucht. Fressnapf bietet Hunde-WM-Trickots und dazu passend schwarz-rot-goldene Pfotenbänder als Stutzen.
Vorbei sind die Zeiten, in denen der Ball einfach nur rund war und ins Eckige musste. Nur der Rasen ist noch schöner grün.

Umsteuern

Juni 2010 – Ungeachtet der Finanz-, Wirtschafts- und Eurokrise werden die Steuereinnahmen in Deutschland 2013 wieder den Stand von 2008 – zu Zeiten bester Konjunktur – erreichen und für 2014 werden mit 581,5 Milliarden Euro die höchsten Steuereinnahmen in der Geschichte erwartet (Arbeitskreis Steuerschätzung beim Bundesfinanzministerium). Aber auch 2009 und 2010 wurden und werden per anno deutlich mehr Steuern eingenommen als noch 2006 (488,4 Milliarden Euro) oder jemals davor (tatsächlich waren es nur 2007 und 2008 mehr Steuern).
Angesichts solch sprudelnder Einnahmen und bei 1,7 Billionen Euro expliziter Staatsverschuldung ist es gelinde gesagt wenig ambitioniert, wenn die Bundesregierung nur anstrebt, bis 2016 die jährliche nicht konjunkturbedingte Neuverschuldung auf rund 10 Milliarden Euro zu drücken (3,5 Promille des Bruttoinlandsproduktes entsprechend der Schuldenbremse des Grundgesetzes).

2014 werden 100 Milliarden Euro mehr Steuern eingenommen als 2006 und die Bundesregierung hofft, dass sie es bis 2016 schafft, nur 10 Milliarden Euro jährlich zusätzliche, neue Schulden zu machen. Das ist doch bitte schön hochgradig absurd!

Bereits heute muss der Staat jeden achten eingenommenen Euro für Schuldzinsen aufwenden. Die stetige Neuverschuldung bedeutet daher rapide abnehmende politische Handlungsspielräume. Das ist Raubbau an der Zukunft unserer Kinder und Enkel – vorsätzlich und unverantwortlich!

Auf den Hund gekommen

Juni 2010 – Am 06.06. hat der Verband für das Deutsche Hundewesen erstmals den Tag des Hundes organisiert. Erwartungsgemäß wieder ein Anlass für neue tierhalterische Absonderlichkeiten auf den mehr als 600 Veranstaltungen deutschlandweit: ein Gottesdienst „für alle Hunde“, das Seminar „Denken lernen wie ein Hund“, Dogfrisbee, Aktionstag „Welcher Mensch passt zu mir - Hund fragt, Mensch antwortet“ und Hundetriathlon. Auch zu einem gemeinsamen Frühstück wird eingeladen – fragt sich, wer frühstückt da mit wem?

Einen Tag zuvor haben Laurie Anderson und Lou Reed in Australien ein Konzert für Hunde gegeben. Zum Teil in nur für Hunde hörbaren Frequenzbereichen. Fast 1.000 Hunde kamen vor die Oper in Sydney „Die Hunde waren wirklich wundervolle Zuhörer, sie haben gegroovt, viele von ihnen haben gesungen und getanzt, sie waren ungehemmt“, meinte Anderson hinterher (ernsthaft).

Durch dick und dünn

Juni 2010 – Jeder sechste Deutsche ist behandlungsbedürftig dick (BMI > 30, das sind zum Beispiel über zwei Zentner bei 1,83 Körpergröße). Im europäischen Dicken-Vergleich belegen die Deutschen inzwischen Platz eins. Dabei dürfte die Statistik sogar noch schöngefärbt sein, weil bei uns im Gegensatz zu anderen Ländern nicht gewogen und gemessen wird, sondern befragt.

Untergewichtig sind nur zwei Prozent der Bevölkerung. Allerdings jede achte Frau im Alter von 18 bis 20 Jahren. Der Verdacht liegt nahe, dass hier nicht Mangel, sondern Mode herrscht.

Dekadenter Wohlstand macht krank.

Schuhschlank

Mai 2010 – Mens sana in corpore sano. Dessen ist sich auch unsere müßige Wohlstandsgesellschaft (noch) bewusst und sucht daher laufend nach möglichst anstrengungslosen Wegen der Gesunderhaltung. Die neue Generation der Freizeitschuhe, der Reebok „EasyTone Inspire“, verspricht ein Mehr an verbrannten Kalorien auch ohne sportliche Betätigungen, allein bei Alltagsbewegungen: “Schritt für Schritt zu einem schöneren Po und strafferen Beinen.“

Als passendes Oberteil zum Schuh empfiehlt Reebok ein „Lightweight Burnout Tee“ und offenbart damit, welch kranker Geist aus einem derart gesundgekauften Körper hervorzugehen droht.

Milchmädchenrechnung

Mai 2010 – Für einen Liter Milch musste man 1950 durchschnittlich 19 Minuten arbeiten, heute sind es nur noch vier Minuten. Für zehn Eier waren es damals sogar zwei Stunden, jetzt sind es acht Minuten (IW Köln Wohlstand in Deutschland, 2010). Wenn wir auch immer weniger arbeiten (inzwischen nur noch 1.400 Stunden pro Jahr, was in etwa einer 32-Stunden-Woche entspricht) wird darin doch in erster Linie der Wertverlust von Lebensmitteln deutlich. Nicht einmal die vitalen Grundlagen unseres Daseins sind uns noch die Mühe wert. Das real existierende Schlaraffenland liegt am Stadtrand und hat einen Parkplatz. Und im Schlaraffenland wusste schon Hans Sachs (1530): „Doch muss sich hüten da ein Mann / Dass man Vernunft ihm merket an“. Also bloß nicht nachdenken, wenn man beim Discounter einkauft!

Denaturiert

Mai 2010 – Ein Drittel der Schüler im Alter zwischen 12 und 15 Jahren hat noch nie im Leben einen Käfer oder einen Schmetterling gefangen. (Jugendreport Natur ’06: Natur obskur)

Aufgemerkt

Mai 2010 – Auf ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitäts-Störung) muss man erst einmal kommen. Laut einer Forsa-Befragung im Auftrag der Techniker Krankenkasse meinen elf Prozent der bayerischen Eltern von ihrem Kind, dass es an ADHS krankt – in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern glauben so etwas gerade mal ein Prozent der Eltern. ADHS muss man sich leisten können.

Sozialabhängigkeit

Mai 2010 – Der Ökonom Guy Sorman hat am 6. Mai 2010 in der spanischen Tageszeitung ABS geschrieben: „Die Fundamente der Europäischen Union sind nicht kompatibel mit der Art und Weise, mit der die europäischen Staaten regiert werden. Damit ist gemeint, dass die Europäische Union von Grund auf liberal ist – so wird sie in der politischen Philosophie und von der Wirtschaft aufgefasst – und kann nur auf liberale Art und Weise geführt werden. Alle Mitgliedsstaaten hingegen – auch diejenigen mit konservativer Regierung – haben in der Praxis immense Wohlfahrtsstaaten nach sozialistischen Ideen aufgebaut.“ http://www.eurotopics.de

Der verhängnisvolle Totalitarismus des paternalistischen Wohlfahrtsstaates.
Erst hat diese Verballhornung der sozialen Marktwirtschaft seine Bürger bis zur Unmündigkeit von der Eigenverantwortung entfremdet, zu Zeiten wirtschaftlicher Krisen gefährdet sie nun gar die europäische Einheit und den Frieden: Die bedingungslose Verpflichtetheit zu jeglichem Ausgleich auch nur gefühlter sozialer Ungerechtigkeiten, macht es den europäischen Staaten schier unmöglich, einer Krise angemessen zu begegnen. Die Entkopplung der deutschen Renten von der wirtschaftlichen Entwicklung per Garantie, dass die Renten künftig nicht mehr sinken dürfen, im Mai 2009 mitten in der Weltwirtschaftskrise oder die griechischen Generalstreiks im Mai 2010 gegen die geplanten Sparmaßnahmen zur Konsolidierung des weit über Gebühr geplünderten Staatssäckels (z.B. durch relativ zur Beschäftigtenzahl fast doppelt so vielen Angestellten im öffentlichen Dienst wie in Deutschland, die zudem vielfach sehr gut besoldet sind), das sind Symptome der umfassenden Wohlfahrtstaatssucht in Europa. Einschränkung, Verzicht oder Streichungen finden sich daher kaum im Werkzeugkasten der Krisenbewältigung, nur Schulden und Geldmengenausweitung.

(PS.: Davon unbenommen ist, dass dem nutzlosen Finanzmarkttreiben einer kleinen unmoralischen Minderheit dringend Einhalt geboten werden muss!)

Eingesackt

April 2010 – Louis Vuitton treibt die Demonstration, wie man ganz unverhohlen seine Kunden nach St(r)ich und Faden verarschen kann auf die Spitze: Mit der „Raindrop Besace“ bietet der Taschenhersteller einen Müllbeutel am Lederriemen für 2.000 US-Dollar zum Kauf an.

Schlechtes Stellungsspiel

April 2010 – 15.000 Informatiker-Stellen können mangels geeigneter Bewerber derzeit in Deutschland nicht besetzt werden. Düstere Aussichten: Stell dir vor, alle wollen Computer spielen, aber keiner weiß mehr, wie man ein Computerspiel macht.

Schön ist es auf der Welt zu sein

April 2010 – Laut den Ergebnissen einer repräsentativen Umfrage im Auftrag der KKH-Allianz kann sich jeder sechste Deutsche vorstellen, sich zur Steigerung der Attraktivität operieren zu lassen. Tatsächlich verzeichnet die Krankenkasse auch eine merkliche Zunahme an Anträgen der Versicherten zur Kostendeckung von Schönheits-OPs. Kosmetische Eingriffe sind allerdings noch kein Bestandteil der gesetzlichen Krankenversicherung. Dass sich das bald ändern könnte, lässt der folgende Beitrag vermuten.

Irrtum

April 2010 – Irre! Wir behandeln die Falschen - unser Problem sind die Normalen hat Manfred Lütz seinen aktuellen Kassenschlager genannt (Platz 4 der Spiegel-Bestsellerliste Sachbuch 15/2010). Wer sich das Buch aufgrund des Titels in der Hoffnung auf eine gesellschaftskritische Auseinandersetzung über Normalität und Pathologie unseres modernen Lebens kauft, wird freilich arg enttäuscht. Der politische Tiefgang dieses Werkes geht nur bis zu der dem Titel widersprechenden Erkenntnis: „Kein Mensch ist einfach nur normal. Wenn ‚normal’ schon nichts für die Ewigkeit ist, dann sind ‚normal’ nur vorübergehende Verhaltensweisen, die jedem von uns unterlaufen, auch Ihnen und mir. Auf die Gefahren dieser ‚Normalität’ wollte das Buch hinweisen, ohne freilich ihre Segnungen zu verschweigen. Denn in diesem Leben sind wir darauf angewiesen, dass das meiste ‚normal’ abläuft.“ Ist dann unser Leben an sich das behandlungswerte Problem, Herr Lütz?

Tatsächlich ist das Buch eine recht autistische Selbstbeweihräucherung psychiatrischer Therapiemöglichkeiten, was ohne den Etikettenschwindel eher nur Verkaufszahlen wie von Paranoia für Anfänger bewirkt hätte. Einzig in der Abgrenzung, wann eigentlich ein Verhalten als psychisch krankhaft zu bezeichnen ist, stecken ein paar tieferschürfende Gedanken, die man sich allerdings selbst dazu machen muss. Krank ist man laut Lütz, wenn man selbst und/oder andere unter einem bestimmten Verhalten leiden. Der Leidensgrad als schlüssiges Kriterium für die Behandlungswürdigkeit erhebt die subjektive Leidensfähigkeit zum objektiven Maßstab. So lässt sich über kurz oder lang auch Unbequemlichkeit als Krankheit definieren. Dann kann endgültig jede eigene Anstrengung durch einen sozialstaatlichen Anspruch auf Behandlung ersetzt werden.

Wenn Sie gedankenlos ziehen

April 2010 – Mit dem auf der Spielwarenmesse 2010 vorgestellten Monopoly World schafft Hasbro beim Monopoly das Spielgeld ab. Ein Computer übernimmt den bargeldlosen Zahlungsverkehr zwischen den Spielern. Die Notwendigkeit das Wechselgeld auszurechnen oder die Zahlungsfähigkeit zu überschlagen entfällt damit. Jetzt können auch die Kleinsten einkaufen ohne nachzudenken wie die Großen im richtigen Leben.

Aktuelle Hundemorde

April 2010 – Auf einer Madrider Tier-Modenschau hat sich ein Hund auf dem Laufsteg in seinem Mantel verwickelt und selbst erdrosselt.

Lohnanstand

März 2010 – Damit sich Arbeit lohnt betitelt der Paritätische Wohlfahrtsverband eine Expertise vom März 2010 zum Einkommensunterschied zwischen Beziehern niedriger Erwerbseinkommen und Hartz-IV-Empfängern. Dieser sogenannte Lohnabstand bestimmt, ob ein Anreiz zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit besteht, sich Arbeit also im Sinne von „mehr als die staatliche Unterstützung“ lohnt. Dementsprechend lohnt sich Arbeit nicht, wenn man damit nicht mehr als den Sozialtransfer verdienen kann. Hier offenbart sich ein entscheidender Denkfehler im (inzwischen massenhaft) üblichen Verständnis unseres Sozialstaates. Es wird vollständig ausgeblendet, dass für die Verfügbarkeit von Sozialleistungen immer zu allererst einmal Arbeit notwendig ist … allerdings von anderen! Eigentlich bestünde eine solidarische Verpflichtung, so viel wie möglich für das eigene Auskommen selbst zu leisten, allein deswegen, um nicht anderen seinen Unterhalt aufzuhalsen. Diese Selbstverständlichkeit von Geben und Nehmen ist im deutschen Wohlstandswohlfahrtsstaat verloren gegangen.

Unter den gegebenen systematischen Voraussetzungen ist dieser Realitätsverlust tatsächlich niemandem zu verübeln. Unser gesellschaftliches Selbstverständnis hat sich auf Anspruchsdenken statt solidarisches Pflichtbewusstsein verlegt. Einen Wandel kann hier nur bewirken, dass bei gegebener Erwerbsfähigkeit jede staatliche Leistung immer unmittelbar eine individuelle Verpflichtung zur Gegenleistung begründet. Im Fall von Sozialtransfers also etwa die obligatorische gemeinnützige Vollzeittätigkeit oder ausnahmsweise (z.B. wenn die Zeit für Fortbildungen genutzt wird) die Rückerstattung als Sozialdarlehen. Am Rande: Auf Unternehmenssubventionen ist dieses Prinzip der unmittelbaren, individuellen Gegenleistung selbstverständlich entsprechend anzuwenden.

Künstliche Kunst

März 2010 – Oswald Spengler prophezeite, dass im „Untergang des Abendlandes“ die Kunst ihre vordenkende und gesellschaftlich wegweisende Kraft einbüßen werde. Ja dass sie sich sogar gänzlich erschöpfen werde und bald nur noch vermag, Althergebrachtes zu verquirlen und allenfalls modisch zu variieren, statt etwas mit neuem Geist zu schaffen. Nun ist Spengler zumindest in vielen seiner Ausgangsannahmen widerlegt. Verfolgt man aber die Hype um den Debut-Roman Axolotl Roadkill von Helene Hegemann schießen einem Spenglers Vorhersagen unwillkürlich durch den Kopf und man fragt sich, ob es nicht doch genau so kommt.

Trotz erwiesenem Plagiats in großem Umfang, ja sogar trotz der Bekundung der überführten Autorin, bei dem Buch handle es sich eben um einen „Remix“, bejubelt ein Großteil der Kritik die Textcollage, nominiert das Ganze für den Preis der Leipziger Buchmesse und die Leute kaufen es dementsprechend in die Top Ten der Bestseller-Listen. Die tatsächliche Eigenartigkeit dieses Romans lässt sich darauf reduzieren, dass eine 17-Jährige mit perverser Fäkalsprache um sich wirft, die sie selbst, wie gesagt, nicht fähig gewesen wäre zu artikulieren, was aber trotzdem als authentische Jugendkultur angepriesen wird. Ein Verlag lässt ein Mädchen mit fremden Worten ekelhafte und pornografische Tabubrüche begehen und Kritik und Leserschaft bejubeln es in seltener Einhelligkeit. Spengler: „Die Kunst hat aufgehört, das Schicksal ihrer Kultur zu sein. Ihre Sprache bedeutet nichts mehr.“

Eine Metapher...

… für das, was ich mit „selbst denken und handeln“ meine – Februar 2010 – Wenn man bei uns hinterm Dorf zum Langlaufen geht, begegnet man oder entdeckt die Spuren von vier unterschiedlichen Typen Mensch: Das sind einmal diejenigen, die sorgfältig – vielleicht sogar extra mit etwas breiteren Skiern – die ersten Spuren gezogen haben (Loipen gibt es bei uns nicht). Dann die, die diesen Spuren mit Bedacht folgen, so dass sie möglichst eher besser als schlechter werden. Dann auch solche, die den Spuren nachlaufen, ohne sich irgendwelche Gedanken über ihre Herkunft oder ihren Erhalt zu machen. Und schließlich gibt es Spaziergänger, die auf weiter Flur keinen anderen Weg finden, als über die Langlaufspuren zu trampeln.

Wenn eine neue Anstrengung für eine zukunftsfähige Gesellschaft gelingen soll, brauchen wir Spurer und achtsame Folger, weniger gedankenlose Mitläufer, vor allem aber keine Trampler.

Unlustig

Februar 2010 – Nach Hochrechnungen im Arztreport 2010 der Barmer GEK geht jeder gesetzlich Versicherte durchschnittlich 18 Mal im Jahr zum Arzt (ohne Zahnarzt). Gemeinsam mit Japan sind wir damit wahrscheinlich Weltspitze (OECD). Maßgeblichen Anteil an der wachsenden Anzahl von Arztbesuchen und zweit häufigste Ursachengruppe: Depressionen. Nach Hochrechung der Barmer GEK wurden 2008 bei 6,6% der 70 Millionen gesetzlich Versicherten Depressionen diagnostiziert. Das sind 4,6 Millionen Bundesbürger – mindestens jeder 17. Deutsche glaubt sich also depressiv (und bekommt das auch ärztlich attestiert). Bemerkenswert: Laut dem Arztreport 2010 sind die Diagnosen zum überwiegenden Teil – bei einer Auswahl von 24 normierten Alternativen – nur einer, der unspezifischsten Variante zuzuordnen; „depressive Episode, nicht näher bezeichnet“ – Der Verdacht liegt nahe, dass man wohl oft auch hätte sagen können: mal nicht so gut drauf gewesen. 4,1 Milliarden Euro hat das den Sozialversicherungspflichtigen 2008 gekostet. Unlust muss man sich leisten können.

Gute Nacht John-Boy

Februar 2010 – Laut einer Reportage in der Süddeutschen Zeitung vom 17. Dezember 2009 spielen 73 Millionen Facebook-Mitglieder die Facebook-Applikation „Farmville“ – 27,5 Millionen davon täglich. Eine simple Bauernhof-Simulation mit Kinder-Cartoon-Charme. Allerdings offensichtlich einmal mehr hervorragend geeignet, um sich zunehmend aus der Teilhabe am wirklichen Leben zu beamen. Neben der in solchen Echtzeit-Simulationen üblichen notwendigen regelmäßigen Pflege (jäten, säen, ernten, Tier pflegen), haben die Farmville-Entwickler geschickt den realen sozialen Druck in die putzige virtuelle Welt eingebaut: Wirklich voran kommt man in Farmville nur mit virtueller Nachbarschaftshilfe : do ut des. Dass man anstatt des Daddelns auch einem wirklichen Nachbarn mal im wirklichen Garten oder sonst wo/sonst wie helfen könnte, kommt einem Farmville-Farmer wohl kaum mehr in den Sinn: keine echte Echtzeit.

Sterntaler

Januar 2010 – Nicht nur dass das ehemalige Arbeitsamt sich seit geraumer Zeit in seinen modernen Centern um Jobs statt um Arbeit kümmert – also im gängigen Sprachgebrauch um „vorübergehende [einträgliche] Beschäftigung zum Zwecke des Geldverdienens“ statt um „Berufsausübung, Erwerbstätigkeit“ (Deutsches Wörterbuch des Zeitverlags 2005) – nun ist der Bundesagentur für Arbeit offenbar auch der Himmel auf den Kopf gefallen. Seit Oktober 2009 kann für die Ausbildung in „Psychologischer Astrologie“ einer Hamburger Astrologin und Heilpraktikerin staatliche Förderung beantragt werden. „Dies bedeutet für Arbeitssuchende mit astrologischen Ambitionen eine besondere Chance: Ihre Ausbildungsgebühren können zu 100% von Deutschen Behörden übernommen werden“, wirbt die „Bildungs“anbieterin. Auf Kosten der Steuerzahler/Arbeitslosenversicherungspflichtigen werden da „Mondknoten historisch und psychologisch“, „lebendiger Umgang mit den Orben“, „Uranus psychologisch gesehen und im Fragebogen“ oder „Visionen und Sinngebendes im LebenFlexibilitätstraining zu den Aspekten: Umgang mit Horoskopen ohne eingetragene Aspekte“ memoriert. Mit Verlaub, das scheint mir himmelschreiend.

Rechenfehler

Januar 2010 – Laut dem Münchner Merkur vom 24.12.2009 fordert die Landes-Eltern-Vereinigung der Gymnasien in Bayern e.V. die Abschaffung von Mathematik als Abiturpflichtfach. Lässt sich schon schwerlich über die überragende Rolle von Mathematik neben Deutsch und Englisch für die generelle Studierfähigkeit streiten, die Begründung der LEV schlägt dem Fass den Boden aus: Zwei Drittel der Schüler hätten mit dem Fach Probleme. Da ist er wieder, der allgegenwärtige Reflex in unserem Bildungssystem: Gefühlte Überforderung führt zur Reduzierung der Anforderungen statt zur Steigerung der Anstrengungen. Wer einen Eimer Wasser ausschüttet, um leichter daran zu tragen, braucht sich nicht wundern, wenn er später nichts zu Trinken hat.

Ebenfalls zwei Drittel (der Deutschen) vertrauen auf die Hilfe von Schutzengeln (GEO 2005). Wenn’s nach der LEV geht, werden wir die auch dringend brauchen.

The same procedure as ev`ry day

Dezember 2009 – Die Süddeutsche Zeitung vom 23.12.2009 berichtet, dass laut einer Forsa-Umfrage 89 Prozent aller Deutschen Weihnachten vor dem Fernseher verbringen. Schöne Bescherung.

Krankmachen

Dezember 2009 – Eindrucksvolle Belege, wie wir immer mehr das Leben an sich in ein therapiebedürftiges und medikamentenabhängiges Dasein umwandeln, finden sich in den gesellschaftlich ambitionierten Publikationen des altgedienten Psychiatrieprofessors Klaus Dörner (über ein Land voller Menschen, die sich „möglichst lebenslang sowohl chemisch-physikalisch als auch psychisch für von Experten therapeutisch, rehabilitativ und präventiv manipulierungsbedürftig halten, um ‚gesund leben‘ zu können.“). Sehr plakativ seine zweijährige Analyse der Berichte über wissenschaftliche Untersuchungen zur Häufigkeit psychischer Störungen in zwei überregionalen Zeitungen: Dörner zählte die veröffentlichen Erkrankungsquoten zusammen und kam für die Gesamtheit der deutschen Bundesbürger auf 210 Prozent – das heißt, jeder Deutsche leidet laut Expertenmeinungen durchschnittlich an mehr als zwei psychischen Störungen, die therapiert werden müssten, wie Angst, Depressionen, Sucht, Traumata, Essstörungen oder Schlaflosigkeit („Die allmähliche Umwandlung aller Gesunden in Kranke“, Frankfurter Rundschau 26.10.2002). Gegen diese Pandemie der psychischen Krankerklärungen ist kein Kraut gewachsen, wird aber nichtsdestoweniger verschrieben und verkauft. Der boomende Gesundheitsmarkt vom functional food über die Fitnessausrüstung bis zum Kernspintomographen ist das Spiegelbild unserer hypochondrischen Wehleidigkeit, die gerade ihren psychosomatischen Hype durchlebt.

Mit dem Versuch den Umgang mit Schmerzen und Leiden oder anderen Befindlichkeitsstörungen vollständig aus der Hand zu geben – ja sogar ein Grundrecht auf eine solche Unversehrtheit zu fordern – berauben wir uns des Kraftpotentials der Selbstbewältigung. Wir nehmen uns die Erfahrung des Durchstandenen. Wir verzichten auf den motivierenden Stachel der Knappheit, der Not. Dörner fragt aber zu Recht, „ob man sich nicht nur zu Tode überlasten, sondern auch zu Tode entlasten“ kann. „Damit ein Schiff oder ein Fesselballon optimal freie Fahrt machen kann, muss auch der Ballast stimmen.“ Die Zähne zusammenbeißen können, ist eine Frage des Menschseins.

Ausgelesen

November 2009 – Im Buch hatte ich bei der Betrachtung der sprachlichen Verarmung via Internet bereits kurz die Schullektüren „… einfach klassisch“ erwähnt. Der Cornelsen-Verlag gibt in dieser Reihe klassische Literaturwerke sprachlich vereinfacht, gekürzt und bebildert heraus – in der Reihe „einfach lesen!“ verlegt Cornelsen sogar Kinder- und Jugendbücher wie Pippi Langstrumpf oder Die Wilden Fußballkerle verstümmelt und versimpelt. In der ZEIT vom 12. November 2009 (Dossier: „Ein Land verlernt das Lesen“) verteidigt die zuständige Schulbuchredakteurin Gabriele Biela ihren Ansatz: „Mein besonderes Interesse galt immer den Schülern, die Probleme haben. Bei denen lautet die Alternative: die einfache Version oder gar nicht.“ Funktioniert so moderne (Schulbuch-)Pädagogik?: Als vorauseilende Kapitulation vor der Lernverweigerung.
Die maßgebliche Motivation, Lesen zu lernen, ist doch, etwas erfahren zu wollen, etwas verstehen zu wollen oder etwas miterleben zu wollen. Lesen lernen heißt, Lesen wollen lernen. Das Ziel lässt einen sich auf den Weg machen. Warum aber überhaupt losgehen, wenn man eh nur warten muss, bis man hingetragen wird. Warum etwas selbst entziffern, wenn eh zu erwarten ist, dass einem alles über kurz oder lang vorgekaut reingewürgt wird.

Als Ceausescu Probleme mit der Brennstoffversorgung hatte, fälschte er den Wetterbericht, damit seine Bürger weniger heizen – die Rumänen haben deswegen damals nicht weniger gefroren. Wir werden heute kein höheres Bildungsniveau erreichen, wenn wir Die Räuber als Comic verschleudern. Zwischen acht Prozent der Schulabgänger, die jedes Jahr in Deutschland die Schulen ohne einen Abschluss verlassen, und einem Viertel der erwachsenen Deutschen, die laut Stiftung Lesen überhaupt keine Bücher mehr lesen, besteht ein Zusammenhang und der heißt: wollen!

(PS.: Es geht beim Lesen nicht um Selbstzweck oder romantische Verklärung von Büchern. Es geht um eine Überlebensfähigkeit: „Die Internationale Erhebung über Grad und Verteilung elementarer Grundqualifikationen Erwachsener (IALS) stellte fest, dass Personen mit höherer Lesekompetenz größere Chancen haben, eine Beschäftigung zu finden und ein höheres Durchschnittsgehalt zu erzielen, als solche mit geringeren Fähigkeiten in diesem Bereich (OECD und Statistics Canada, 2000). … Die wichtigste Erkenntnis lautet, dass die Zukunftsaussichten einer Person auf dem Arbeitsmarkt über den Bildungsabschluss hinaus auch durch das Niveau der Lesekompetenz bestimmt werden.“ Quelle: Lesen kann die Welt verändern, OECD 2002)

Verschlimmbessern

November 2009 – „Besser statt mehr“ war am 30. November 2009 die Überschrift der ersten Konferenz des Denkwerk Zukunft – Stiftung kulturelle Erneuerung. Eine ausdrücklich wichtige Initiative, in der die Zukunftsfähigkeit unseres heutigen massenhaften Verständnisses von Wachstum – mehr Konsummöglichkeiten und weniger arbeiten – in Frage gestellt wird beziehungsweise (und das zeigt sich als bedeutend schwieriger) neue Denk- und Lebensweisen gesucht werden und ihren Ausgangspunkt finden sollen (www.denkwerkzukunft.de). „Denn ob es uns morgen besser oder zumindest nicht schlechter geht als heute, hängt nicht davon ab, dass etwas wächst, sondern dass etwas wächst, was Mensch, Umwelt und Natur zuträglich ist“, hat Meinhard Miegel auf der Konferenz die letztlich simple, aber doch so schwierig umsetzbare Vernunft der Nachhaltigkeit zusammengefasst.

Das sind nun genau meine Themen: sowohl die unhinterfragte Gläubigkeit an grenzenloses Wachstum (um des maßlosen Konsums willen wider jedem vernünftigen Verstand, dem beim Auftreten von Unendlichkeiten in einem endlichen Bezugssystem – Erde – eigentlich ganz von selbst Zweifel kommen sollten) als auch der Verlust einer eigentlich natürlichen Nachhaltigkeit im menschlichen Verhalten (der Nachkommenschaft nicht nur Leben sondern auch Lebensraum schenken zu wollen). Nicht wenige der Konferenzteilnehmer, Referenten und Diskutanten schossen und schießen aber weit über das Ziel hinaus und daher wahrscheinlich auch am Ziel vorbei. In der Wachstumskritik verteufeln viele allzu gerne pauschal „die“ Wirtschaft und blenden aus, dass die marktwirtschaftliche Wende unsere Gesellschaft nicht einfach vom Zustand eines archaischen immateriellen Wohlstandes (genannt Glück) zu bloßem materiellen Wohlstand verleitet hat. Vielmehr ist es den marktwirtschaftenden Gesellschaften in einem vorher nie da gewesenen Umfang gelungen Hunger, Krieg und Unfreiheit zu überwinden. Wirtschaft und Wirtschaften als pures materielles Mehrungssystem zu verstehen, greift zu kurz. Wirtschaft und Wirtschaften sind unerlässlich, weil vollkommen unabhängig vom erreichten Wohlstand Essen, Kleidung und ein Dach über’m Kopf jeden Tag von neuem erwirtschaftet werden müssen – woher sollte es auch sonst kommen? Genauso wie dieser Planet die Endlichkeit in sich birgt, gilt irdisch auch unabänderlich: aus nichts kommt nichts – selbst der, der fünf Brote teilen konnte, dass sie Fünftausend nährten, brauchte erst einmal fünf Brote. Solches gilt ohne Abstriche auch für Rechtsstaatlichkeit, die Sicherheit und die staatsbürgerliche Gleichheit – alles erfordert den planvollen Einsatz materieller und immaterieller Ressourcen. Es braucht also ein produktives Wirtschaftssystem.

Wir müssen dementsprechend aufpassen, dass wir den Teufel nicht mit dem Belzebub austreiben und aufgrund vollkommen unbelegbarer Hoffnungen eines fundamentalen Systemwechsels die Freiheit riskieren (und wahrscheinlich auch die Sattheit und den Frieden). Trotzdem bleibt natürlich offensichtlich, dass die derzeitige Ausgestaltung der sozialen Marktwirtschaft hinsichtlich ihrem nachhaltigen Selbsterhalt nicht perfekt ist. Ihre Grundpfeiler Wettbewerb, Eigentum, Verantwortung und Solidarität haben sich allerdings als sehr praktikabel, weil menschlich erwiesen. Das Gebot der Stunde ist also nicht die Suche nach einem neuen Wirtschaftssystem oder gar die Rückkehr zu bereits ausprobierten menschenverachtenden Alternativen, sondern die Gestaltung des im Gedanken der sozialen Marktwirtschaft unerlässlichen politischen Ordnungsrahmens (DAS bedeutet übrigens Neo-Liberalismus). Das wird beizeiten noch genauer auszuführen sein. Einstweilen nur so viel: „besser statt mehr“ wird sich sicher nicht durch weniger Arbeit und Leistung machen lassen. Wir brauchen nicht weniger Produktivität, wir müssen die Produktivität besser auf die Produktion von Nachhaltigkeit einrichten.

Soylent Green

Oktober 2009 – Von wegen digitale Zukunft. „Alles analog!“, heißt die moderne Devise. Naturanalog. Wörtlich übersetzt bedeutet das: der Natur entsprechend. Nur so als ob, ergo: unnatürlich. Naturanalog, das sind heute immer mehr Lebensmittel. Mithin könnte man gleich und tut es tatsächlich auch von Analog-Lebensmitteln sprechen – also von solchen Substanzen, die nur vorgeben Lebensmittel zu sein, in Wirklichkeit aber das Dasein einer sägemehligen Geschmacks-Fata Morgana fristen. In der Anmutung von Käse, Joghurt, Schinken, Brühe, Eiscreme, Garnelen, Früchtetee und so weiter sind Analog-Lebensmittel inzwischen massenhaft allgegenwärtig. Das provoziert unweigerlich Szenen aus Soylent Green (dt. Jahr 2022 … die überleben wollen) von 1973 vorm geistigen Auge: von Bulldozern zusammengeschobene Menschenmassen, die sich um das letzte knappe Nahrungsmittel Soylent balgen. Sie schmecken und wissen nicht, dass es aus den Leichen ihrer verstorbenen Mitbürger hergestellt wird. – „Soylent Grün ist Menschenfleisch!“ – Und wenn sie es wüssten, blieb ihnen auch keine andere Wahl.

Zurück in unsere Realität: Die Verantwortung für die Existenz und die wachsende Verbreitung von naturanalogem Menschenfutter allein auf die Unmoral der Lebensmittelindustrie oder die Unfähigkeit der Verbraucherministerien abzuschieben – wie es zum Beispiel der selbsternannte hohe Priester des dem Kommerz geopferten guten Geschmacks Wolfram Siebeck macht – ist billig. Wären wir nicht so müßig, uns alles und immer vorkauen zu lassen, fiele uns selbst auf, dass wir Kunststoff verzehren. Die Bequemlichkeit der Fertigpizza überwiegt den natürlichen Überlebensdrang gesunder Ernährung. Bei einem Drittel der Bevölkerung mit durchschnittlich sieben Stunden täglichem Fernsehkonsum sind Analog-Lebensmittel nur die konsequente Folge ihres Analog-Lebens.

Arbeitsunwilligkeitsbescheinigung

Oktober 2009 – In der ZEIT vom 24. September 2009 wird eine Studie der Forschungsgruppe Psychosomatische Rehabilitation an der Berliner Charité zitiert, nach der 75 Prozent Patienten, die wegen psychosozialen Problemen krank geschrieben wurden, nach Ansicht von Zweitgutachtern eigentlich arbeitsfähig gewesen wären. Nach einer Untersuchung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin gingen der deutschen Volkswirtschaft 2006 rund 65 Milliarden Euro Bruttowertschöpfung insgesamt durch Arbeitsunfähigkeit verloren. Nachdem jeder zehnte Arbeitsunfähigkeitstag auf psychische und Verhaltensstörungen zurückgeht, ergibt das einen Verlust von rund 5 Milliarden Euro Bruttowertschöpfung p.a. durch Psycho-Blaumacher. Ein Anhaltspunkt für die gegebene Dimension des dekadenten Solidaritätsdefizits unserer Gesellschaft. Die grassierende Lustlosigkeit kommt der Gemeinschaft teuer zu stehen.

Wahlfreiheit

Oktober 2009 – 70,8 Prozent betrug die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2009 laut amtlichem Endergebnis. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik waren die Geschicke unserer Nation so vielen Bürgern egal: 18,2 Millionen Nicht-Wähler. Nicht einmal die größte Weltwirtschaftskrise der Nachkriegszeit vermochte es, die Menschen zu politisieren. Dem Souverän ist seine Souveränität zu mühselig geworden.

Wir riskieren die demokratische Verfassung unserer Gesellschaft. Und damit den Frieden. Kant meinte in seiner Schrift Zum ewigen Frieden 1795: „Wenn (wie es in dieser Verfassung nicht anders sein kann) die Bestimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, ‚ob Krieg sein solle oder nicht’, so ist nichts natürlicher, als dass sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müssten (als da sind: selbst zu fechten; die Kosten des Krieges aus ihrer eigenen Habe herzugeben; die Verwüstung, die er hinter sich lässt, kümmerlich zu verbessern; zum Übermaße des Übels endlich noch eine, den Frieden selbst verbitternde, nie [wegen naher immer neuer Kriege] zu tilgende Schuldenlast selbst zu übernehmen), sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen.“ Nur die Verwurzelung einer Staatsführung in der Bevölkerung – die Volksvertretung – gewährleistet die untrennbare Verquickung von politischem Handeln mit den daraus resultierenden Folgen. Die Verachtung von Parlamenten, Politikern und Parteien – so kritikwürdig deren Gebaren im Einzelfall sein mag – heißt diese Garantie fahrlässig aufzugeben. Nicht-Wahl ist keine politische Entscheidung, sondern die Aufgabe der Teilhabe an einem Gemeinwesen.

Wahlempfehlung

September 2009 – Beitrag zum ZEIT-Wettbewerb „Politischer Essay“: Welche Wahl lässt uns die Krise? [84 KB]

Putting away the Xbox

September 2009 – Im Buch bin ich ausführlich darauf eingegangen, dass die ausschlaggebenden Erfolgsfaktoren für Bildung weniger Didaktik und Pädagogik sind, sondern Lernen und Üben. Auch der schönste Bildungsplan und seine bestmögliche Umsetzung können das Büffeln nicht ersetzen. Wer sich aber heute erdreistet, „von den Kindern etwas zu fordern, zieht postwendend den Zorn der Eltern auf sich. Kaum eine Anforderung, die im Unterricht an die Kinder gestellt wird, für die sich nicht Eltern finden, die Überforderung fürchten.“ Sie wären aber eigentlich die natürliche Instanz, um die Kinder herauszufordern und zum Lernen und Üben anzuspornen. Wenn die Eltern jedoch immer mehr die Unbequemlichkeit dieser oft mühsamen und weitestgehend undelegierbaren Aufgabe scheuen, verwehren wir der nächsten Generation die Chance, die eigenständige Überlebensfähigkeit zu erlernen.

Wer mir das nicht glaubt, hat vielleicht mehr Vertrauen in die Worte des amerikanischen Präsidenten: „To parents – to parents, we can't tell our kids to do well in school and then fail to support them when they get home. You can't just contract out parenting. For our kids to excel, we have to accept our responsibility to help them learn. That means putting away the Xbox – putting our kids to bed at a reasonable hour. It means attending those parent-teacher conferences and reading to our children and helping them with their homework.”
(Aus Barack Obama’s Rede bei der National Association for the Advancement of Colored People am 16. Juli 2009)

XXL Rettung

September 2009 – In Bayern werden 26 Schwerlast-Retter angeschafft. Ein normaler Krankenwagen ist für Patienten ausgelegt, die maximal 150 Kilogramm wiegen. Das reicht scheinbar immer öfter nicht mehr aus. Die bayerischen Rettungsdienste erhalten daher jetzt flächendeckend Spezialfahrzeuge, mit denen bis zu 300 Kilogramm schwere Patienten transportiert werden können. Die dazugehörige Schwerlast-Trage kann mit einer entsprechend starken Hebebühne ins Fahrzeug gehoben werden. Wie die Sanitäter den Verunfallten aber erst einmal auf die Trage bringen, bleibt nach wie vor ihrer Improvisationsgabe überlassen.

Generation Radlos

September 2009 – Immer weniger Kinder können sicher Fahrrad fahren. Die Unfallforschung des Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (Träger der bundesweiten Fahrradausbildung in der Grundschule) beklagt im Vergleich zwischen 1997 und 2008 zunehmende motorische Defizite: „So beherrschen immer mehr Kinder wichtige Alltagssituationen des Radfahrens nicht, beispielsweise das Spurhalten beim Blick zur Seite oder nach hinten.“ Die Ursache sieht der Studienleiter in einem Teufelskreis aus fehlender Bewegung, mehr Unsicherheit, weniger Fahrradpraxis und damit noch weniger Bewegung. (Quelle: Rudolf Günther, Sabine Degener: Psychomotorische Defizite von Kindern im Grundschulalter und ihre Auswirkungen auf die Radfahr-Ausbildung, Reutlingen 2009 – siehe www.udv.de)

In Schönheit sterben

August 2009 – Unser Glück hängt immer mehr von der Manipulation des Faktischen ab: Die Zahl der Schönheitsoperationen in Deutschland ist von 2006 bis heute von circa 400.000 auf mehr als eine halbe Million jährlich gestiegen. Der Trend geht aber eigentlich zu minimal invasiven Behandlungen wie Faltenunterspritzen. Da ist es allerdings bei uns schwierig, an Zahlen zu kommen. Die Süddeutsche Zeitung mutmaßt in einem Beitrag vom 21. April 2009, dass „alleine in Deutschland 2008 eine Million Botoxbehandlungen gemacht wurden“. Außerdem lassen sich aber auch recht eindeutige Aussagen finden. Die Behandlungsprofis warnen – weil sie um ihre Geschäfte fürchten – vor unsachgemäßer Spritzenhandhabung, „denn die so genannten Botox-Partys boomen regelrecht“. Der FOCUS-TV-Schönheitschirurg meint in einem BUNTE-Interview 2008: „Auffallend ist, dass die Anzahl der Faltenbehandlungen auch in Deutschland förmlich explodiert ist.“ Und Freundin rät ihren Leserinnen: „Keine Angst vor diesem Nervengift, für Beauty-Anwendungen wird es in stark verdünnter und damit vollkommen ungefährlicher Form verwendet.“ Wie ich schon im Buch geschrieben habe: „Da wächst die erste Generation der Menschheit heran, die in Schönheit sterben wird.“

Dazu passend: In Ungarn findet im Oktober 2009 die erste Wahl zur Miss Plastic Hungary statt. Ein Schönheitswettbewerb, bei der nur Frauen teilnehmen dürfen, die sich mindestens einer Schönheitsoperation unterzogen haben, bei der wenigstens eine örtliche Betäubung notwendig war. „Here, women who had plastic surgery show the world that beauty operations are not the work of the devil, that they can be natural and tasteful, and that perfect beauty can be even more perfect.” Nach Angaben der Veranstalter soll der Contest plastische Eingriffe in Ungarn salonfähig machen, damit man den kulturellen Anschluss an den Westen nicht verpasst. In großen Teilen der westlichen Welt wären nämlich Schönheitsoperationen „everyday treatments“. „The first competition that is not afraid to go with the flow.”

Markenliebe

August 2009 – www.mybestbrands.de: Was brauchst du Freunde, wenn du Markenklamotten hast? – „Ein brand, ein guter brand, das ist das Beste, was es gibt auf der Welt …“

Coming Soon

Wertlos

August 2009 – O tempores, o mores. Klagen über den Sittenverfall gab es zu allen Zeiten – nicht immer war deswegen eine Gesellschaft gleich dem Untergang geweiht. Man muss fein unterscheiden zwischen sich natürlich verändernden Moralvorstellungen im Laufe der menschlichen Entwicklung und wo eventuell gesellschaftstragende Tugenden geschliffen werden. Beides ist zudem eng verquickt und die letztendliche Beurteilung bleibt ohnehin den künftigen Geschichtsschreibern vorbehalten. Unbenommen ist aber, dass die ethischen Prinzipien einer Gesellschaft für ihr Schicksal entscheidend sind. Nicht zuletzt weil sich aus der Ethik die Reaktionen auf Probleme, mit denen eine Gesellschaft konfrontiert wird, ableiten.

Eine dieser krisenbewährten Vorstellungen von richtigem Handeln in unserer Gesellschaft ist die gegenseitige Verpflichtetheit innerhalb einer Familie. Die tatsächlich herrschende Erosion dieser kleinsten subsidiären Einheit habe ich im Buch beschrieben. Hier nun ein weiteres Indiz für diesen gefährlichen Wandel von Wertevorstellungen. Eine Lappalie oder schon ein Verfallssymptom?:

Das Internetportal www.leidenschaft18.de spricht per Fernsehwerbung im Abendprogramm gezielt und ausdrücklich Verheiratete für die Dienste der Plattform an: die Vermittlung erotischer Abenteuer und von Seitensprüngen. Auf dass die letzten Familientreuen auch noch in Versuchung geführt werden. 758.987 Mitglieder weist dieser „Partner für den Seitensprung“ aus (22.08.09). Der Tipp des Tages: „Besorgen Sie sich vor dem Treffen ein wasserdichtes Alibi.“ Bild.de meint dazu: „Sie lieben monogam und Treue hat für Sie oberste Priorität. Glückwunsch, dann gehören Sie zu einer ganz seltenen Spezies des 21. Jahrhunderts. Denn immer wieder konfrontieren uns Umfragen mit einer anderen Wahrheit: 38,9 Prozent der deutschen Frauen und 37,1 Prozent der Männer hatten schon einmal einen Seitensprung – das ergab der Sex-Report 2008.“ O tempores, o mores, oder?

Tierliebe

Juli 2009 – Die deutschen Heimtierhalter-Blogs fiebern: Wann wird sie in Deutschland erhältlich sein. Die „Doggie Lover Doll“. Eine aufblasbare Sexpuppe für Hunde. Der Überraschungsknüller auf der 8th Pet South America. Erhältlich in drei verschiedenen Größen: für kleine, mittlere und große Rüden. Mit Silikon-Vagina und einem einfach zu reinigenden Reservoir. „Human beings have their hands to masturbate themselves, now the domestic animals, which have practically no contact with females in heat, can alleviate themselves with a toy designed specifically for them.”

Dem Hersteller PetSmiling liegen schon Händlerbestellungen aus den USA, Japan und Deutschland vor. Wo sonst ließen sich Kunden finden, die sich um solche Probleme bereits ernstlich Sorgen machen?

Mediennutzung

Juli 2009 – 16 Prozent der 15-jährigen Jungen spielen täglich mehr als viereinhalb Stunden Computerspiele (Exzessivspieler) + 23 Prozent täglich mehr als zweieinhalb Stunden (Vielspieler) + 30 Prozent täglich mehr als eine Stunde = macht insgesamt zwei Drittel aller 15-jährigen Jungen, die jeden Tag mindestens eine Stunde Computer spielen (bei den Mädchen ist es immerhin ein Drittel).
Zusammen mit Fern-/DVD-Sehen und Chatten/Surfen im Internet nutzen 15-jährige Jungen durchschnittlich täglich über siebeneinhalb Stunden Bildschirmmedien und die Mädchen über sechs Stunden. Auch wenn dabei Überschneidungen mitgerechnet sind (etwa gleichzeitig Fernsehen und Computerspielen), ist es doch ein deutlicher Beleg, wie sehr eine ganze Generation dabei ist, sich aus der Realität zu verabschieden.(Quelle: KfN-Schülerbefragung April 2007 bis Oktober 2008. Florian Rehbein, Matthias Kleinmann, Thomas Mößle: Computerspielabhängigkeit im Kindes- und Jugendalter, 2009, Forschungsbericht Nr. 108 Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen e.V. – siehe www.kfn.de)

Die Kinder-Stilllegungspraxis macht Schule

Juli 2009 – Immer mehr Kinder werden mit Psychopharmaka leichter handhabbar gemacht. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen titelt in seinem Sondergutachten 2009 in Bezug auf Verschreibungen an Kinder: „Besonders häufig: Präparate für Erkältung und ADHS“ (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung). Auf Datengrundlage der Gmünder Ersatzkasse sind in den Altersgruppen von 7 bis 11 Jahren und 11 bis 14 Jahren jeweils ADHS-Medikamente unter den Top 5 der am häufigsten verordneten Arzneimittel. Bei den 11- bis 14-Jährigen ist das ADHS-Mittel Medikinet sogar auf Platz 1 und zusätzlich Concerta auf Platz 5 (beide mit dem Wirkstoff Methylphenidat, der auch unter dem Handelsnamen Ritalin bekannt ist und nach dem Betäubungsmittelgesetz einer gesonderten Verschreibungspflicht unterliegt sowie für Erwachsene ab 18 Jahren in Deutschland gar nicht zugelassen ist). Zur Wirkweise von Methylphenidat bei ADHS gibt es allerdings nur Hypothesen. Der Sachverständigenrat sieht außerdem die Gefahr möglicher Nebenwirkungen wie Schlaf- und Wachstumsstörungen. Studien belegen, dass die Wirkung der medikamentösen Behandlung langfristig einer reinen Verhaltenstherapie nicht überlegen ist.

Ergo: Mit der schnellen ADHS-Diagnose und dem unweigerlichen darauf folgenden Griff zu den Tabletten, entledigen sich immer mehr Eltern ihrer Erziehungspflichten.

Insgesamt war bei der Gmünder Ersatzkasse 2007 Medikinet das zweit umsatzstärkste Medikament bei Verordnungen an Versicherte unter 18 Jahren – mit einem Zuwachs im Vergleich zu 2006 von 26 Prozent. Concerta ist auf Platz 4 dieser Liste (plus 1 Prozent), Strattera auf Platz 8 (plus 23 Prozent; Wirkstoff Atomoxetin – der Hersteller selbst warnt bei diesem Medikament vor einem signifikant erhöhtem Selbstmordrisiko) und Equasym auf Platz 15 (plus 310 Prozent; Wirkstoff wieder Methylphenidat).

In ganz Deutschland ist bei Methylphenidat die verordnete Menge von 1997 bis 2008 um mehr als das Zwölffache gestiegen auf 50 Millionen Tagesdosen.

Damit können 280.000 Kinder ein halbes Jahr durchgehend behandelt werden. Dabei stellt der Sachverständigenrat zugleich fest: „Eine Zu- oder Abnahme psychischer Auffälligkeiten ist bei Kindern und Jugendlichen in den vergangenen Jahrzehnten insgesamt nicht festzustellen.“ Es gibt also keine ADHS-Epedemie, sondern immer mehr Kinder werden aus Bequemlichkeit mit gesundheitsgefährdenden Drogen künstlich ruhig gestellt.

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Volk der Nichtschwimmer

Kevin allein im Netz

Juli 2009 – Laut einer repräsentativen Umfrage des Branchenverbandes BITKOM geben 31 Prozent der befragten Eltern an, dass sie nicht in der Lage sind, die Web-Aktivitäten ihrer Kinder zu kontrollieren, jeder sechste mischt sich überhaupt nicht in die Internetnutzung seiner Kinder ein. Dabei nutzen laut der Studie bereits 21 Prozent der 4- bis 6-Jährigen das Internet, 71 Prozent der 7- bis 10-Jährigen und ab elf Jahren fast alle. Man darf „Nutzung“ in diesem Zusammenhang aber nicht als etwas Nützliches, etwa ein Referat vorbereiten, missverstehen. Viel mehr geht es um Web 2.0-Anwendungen wie social networks, Foren und das Einstellen von Bildern/Videos. Hoffentlich findet Kevin auch wieder allein aus diesem Netz 2.0 heraus …

Freizeit

Juni 2009 – Deutschland ist Vize-Weltmeister bei der Freizeit. Laut der OECD-Studie Society at a Glance 2009 haben die Deutschen an jedem normalen Tag durchschnittlich 6 Stunden und 35 Minuten Freizeit – müssen also nicht erwerbsarbeiten und beschäftigen sich nicht mit Hausarbeit, Körperpflege, Schlafen, Essen oder Bildung. Tatsächlich braucht ein Großteil der Bevölkerung diese Menge Freizeit auch, um das tägliche Fernsehpensum zu bewältigen. Sechseinhalb Stunden, da wäre eigentlich viel Zeit für ehrenamtliches Engagement in Vereinen, Parteien oder kirchlichen Laienorganisationen – die kämpfen aber allerorts mit Mitgliederschwund. Die neuen OECD-Zahlen sind wieder ein eindrücklicher Beleg gegen die gerne kolportierte These der Beschleunigung unseres ach so hektischen modernen Lebens.

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