GERD MAAS

Politik

Das alte Neue aus Absurdistan in der Kategorie Politik - 15 Beiträge

Das ist Wahnsinn

Mai 2014 – Wir sind allesamt gestört, meint der Bestseller-Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz in seinen Büchern und zuletzt in einem prominent platzierten Interview der ZEIT. Die Mehrheit der Deutschen leide an einer narzisstischen Störung – und ganz besonders alle Politiker. Weil sie quasi krankhaft danach streben, etwas bewirken zu müssen und die Wirkung dann auch ganz gern mit ihrem Namen in Verbindung gebracht sehen wollen. Maaz behauptet natürlich, dass die ganzen schlimmen Politiker nur wegen ihres Narzissmus nach Macht streben und etwas bewirken wollen, und belegt das eben damit, dass alle nach Macht streben und etwas bewirken wollen. Die Behauptung, dass es ihnen gar nicht um die Sache geht, hängt er einfach als Axiom in den Raum.

Das sind billige Taschenspielertricks. Was für ein Unsinn, Politikern Extrovertiertheit und Streben nach Einfluss als psychische Störung vorzuwerfen. Wie soll denn Politik anders funktionieren, als in der merkbaren öffentlichen Darstellung und im Ringen um Positionen, in denen man seine Vorstellungen verwirklichen kann? Tatsächlich ist es außer fürs Geschäft der Therapeuten wenig hilfreich das Leben an sich mehr und mehr zu pathologisieren und Binsenweisheiten als Krankheiten zu stilisieren. Der ganz normale Wahnsinn unseres menschlichen Daseins braucht nicht mehr psychiatrische Behandlung, sondern die Auseinandersetzung miteinander.

Und genau hier entfalten Maaz’ Eigenreklame-Thesen ihre fatale Wirkung. Solch leichtfertiges Abstempeln der Politiker als kaum heilbare Kranke signalisiert den Bürgern: Auseinandersetzung ist zwecklos – lass die armen Irren mal alleine ihr Politikspiel machen und pfleg’ derweilen lieber deine eigenen Neurosen. Maaz gibt der wohlständig satten Politikverdrossenheit die Legitimation. Was soll ich mich mit politischen Programmen auseinandersetzen, Debatten verfolgen oder Wählen-Gehen, wenn alles eh nur zur Befriedigung der Eitelkeiten einer narzisstischen Politikerkaste inszeniert wird.

Tatsächlich sind Politiker nicht mehr und nicht weniger meschugge als der Rest der Menschheit (wobei ja, wenn man die Psychotherapeuten fragt, eh jeder mindestens zwei behandlungswürdige psychische Erkrankungen mit sich herumträgt). In Wirklichkeit entwickelt sich unser Gemeinwesen umso besser, je mehr sich Politiker der öffentlichen Auseinandersetzung stellen. Man muss die Akteure dabei nur ansprechen und wird ganz schnell selber merken, wem es manchmal nur um den schönen Schein geht und wo Bereitschaft zur inhaltlichen Beschäftigung herrscht. In diesen Tagen gibt es wieder zahlreiche Gelegenheiten dazu auf Wahlkampfständen und Wahlkampfveranstaltungen zur Europawahl. Also hören Sie nicht auf Ihren Psychiater, das Verrückte am Leben ist ganz normal. Und unterschätzen Sie Ihre Möglichkeiten zur politischen Mitgestaltung nicht. Ich rate zu Informieren, Debattieren und am 25. Mai 2014 die Stimme abzugeben.

Berlin! Hörī ich den Namen bloß

Juni 2013 – Das macht die Berliner Luft / Luft / Luft / So mit ihrem holden Duft / Duft / Duft / Wo nur selten was verpufft / Pufft / Pufft … Na, von wegen. In Berlin verpuffen der duften Verwaltung sogar die Einwohner und mit ihnen lösen sich Milliarden in Luft auf. Die Volkszählung (Zensus 2011) hat ergeben, dass in Berlin 180.000 Menschen weniger leben, als dort verwaltet werden. Damit bekommt Berlin künftig rund eine halbe Milliarde Euro jährlich weniger aus dem Länderfinanzausgleich, weil die Hauptstadt tatsächlich – schaut man auf Steuereinnahmen pro Kopf – weniger arm ist als sie sich gibt. Dann wohl auch weniger sexy, oder? Da mussten die Berliner Politiker natürlich postwendend reagieren und haben sich mit einem Handstreich gleichzeitig wieder ärmer und mehr sexy gemacht. Unisexy. Der Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg baut die Toiletten in seinen öffentlichen Gebäuden um. Neben Männlein und Weiblein sollen in Zukunft auch geschlechtsunentschlossene Menschlein ihr Bedürfnis diskriminierungsfrei unter ihresgleichen verrichten dürfen. Menschen, „die sich entweder keinem dieser beiden Geschlechter zuordnen können oder wollen oder aber einem Geschlecht, das sichtbar nicht ihrem biologischen Geschlecht entspricht“. Eingebracht wurden die zusätzlichern Unisex-Toiletten im Bezirksparlament von den Piraten, beschlossen mit den Stimmen von SPD, Grünen und Linkspartei.
Schuld ist nach meiner Einschätzung das Flughafendebakel. Da ist einfach zu viel in die Hose gegangen. Und da wussten einige offenbar nicht mehr, wo sie sich ungesehen erleichtern können. Vielleicht war es aber auch nur ein Missverständnis, weil ein Berliner Pirat bei Liquor Democracy gemeint hatte, ob nicht Eintopf für alle knorke wäre. Nachdem laut PISA in Berlin die deutschstämmigen Schüler nicht besser lesen können als in Bayern die ausländischen Kinder, kann da im Kauderwelsch der Generation SMS ja leicht mal was in den falschen Kanal geraten. Da müsste eins der acht öffentlich finanzierten Berliner Sinfonieorchester vielleicht mal eine Standpauke zur Verfügung stellen. Das haben die vielleicht auch schon gemacht, nur unvorsichtigerweise den Standpauker mit der S-Bahn losgeschickt. Und so warten die Berliner heute noch vergeblich auf die öffentlichen Eingebungen.

Flickschustern statt Vorbeugen

Januar 2013 – Ein Vergleich der „Struktur der Ausgaben der Zentralregierungen nach Verwendungszweck“ in Die OECD in Zahlen und Fakten 2011 offenbart ein eklatantes Missverhältnis in unserem Land: Unter den OECD-Ländern nimmt Deutschland den vorletzten Platz bei den Ausgaben fürs Bildungswesen ein (1,2 Prozent des Haushaltes), während wir bei den Sozialausgaben mit 47,9 Prozent des Haushaltes mit deutlichem Abstand absoluter Spitzenreiter sind. Wenn auch die Vergleichbarkeit aufgrund gewisser Unterschiede in der föderalen Ausgestaltung etwas beeinträchtigt ist, bleibt doch der Befund ziemlich eindeutig: Wir alimentieren offensichtlich lieber Bildungsferne, als dass wir versuchen, sie zu beseitigen. Einmal mehr ein Auswuchs des allseits gedeihenden Strebens nach der viel gepriesenen sozialen Gerechtigkeit. Unter dem Deckmantel der Undefiniertheit dieses Allgemeinplatzes werden die verfügbaren Mittel lieber umverteilt als investiert. Nicht fördern und fordern, sondern füttern und fernsehen lassen. Das ist weder vernünftig noch moralisch.

„Moral statt sozial“ ist auch ein Thema im aktuellen Buch mit Versuchen zu einer neuen Aufklärung. Hier geht’s zur Buchvorstellung und hier könnte es direkt bestellt werden.

Marshall vs. Merkel

September 2012 – Eine Klarstellung scheint mir dringend angebracht, etwas Aufklärung im herrschenden Wirrwarr der wechselweise schwelenden und auflodernden Debatte um den rechten Weg zur Rettung des Euros, der Europäischen Union oder gar überhaupt des Friedens unter den europäischen Völkern – denn um was sonst als das Letztgenannte geht es im Grunde; eben darum ist auch die Inflation der Beschäftigungen damit und der Kommentare dazu mehr als legitim. So hoffe ich, trotz eines gewissen erwartbaren Stöhnens, „schon wieder Euro“, auf wackere Weiterleser, die sich der zermürbenden Komplexitätsschlacht dieses Themas unverdrossen stellen. Weil ihnen ein friedliches Europa das wert ist.

In diesen Tagen wird in Bezug auf den deutschen Beitrag zur Euro-Rettung immer wieder gerne mahnend angeführt, die Deutschen sollen doch bitte in der heute zugedachten Rolle ihre eigene Geschichte nicht vergessen. Sie mögen sich der Geburtshilfen des deutschen Wirtschaftswunders bewusst sein. Namentlich an den Marshallplan wird hier gerne erinnert. Tatsächlich eine nicht so abwegige Parallele, ging es doch auch beim Marshallplan, eingedenk der verheerenden Folgen der Versailler Reparationen, nicht ganz unerheblich um Hilfen die Frieden sichern sollten. Und ich bin ziemlich überzeugt, dass in der Tat solcherlei Überlegungen im Handeln der verantwortlichen politischen Kräfte in Deutschland volksparteiübergreifend wirklich prägend sind.

Nun werden diese Ermahnungen zur Erinnerung an die empfangene Unterstützung fast ausnahmslos aufrechnend dargeboten, mit einem Unterton, der auf einen unausgeglichen Saldo weist. Die Deutschen mögen doch allerwenigstens das jetzt zur Rettung Europas beitragen, was man ihnen nach dem Krieg zukommen hat lassen. Als ein Beispiel unter vielen meint der griechische Schriftsteller Petros Markaris in der ZEIT, die Amerikaner hätten damals dafür „unermesslich viel Geld ausgegeben – als Hilfe nicht als Kredit. Sie hatten begriffen: Wenn man eine Weltmacht sein will, hat man auch einen Preis dafür zu zahlen. Die Deutschen wollen eine Führungsmacht in Europa sein, aber dafür den kleinstmöglichen Preis zahlen.“

Geschichtsvergessenheit und Geiz lautet also der Vorwurf. Und eben das ist dann doch einen zweiten Blick wert: Zunächst einmal darf man an dieser Stelle daran erinnern, dass der Marshallplan kein Hilfsprogramm ausschließlich für Deutschland war. European Recovery Program lautete der bezeichnende formelle Titel der Initiative. Von insgesamt knapp 14 Milliarden US-Dollar gingen dementsprechend zwischen 1948 und 1953 „nur“ 1,4 Milliarden nach West-Deutschland, für Großbritannien waren es etwa 3,4 Milliarden, für Frankreich 2,8 Milliarden und Griechenland wurde mit 0,7 Milliarden US-Dollar unterstützt – pro Kopf auf die Bevölkerung von 1950 gerechnet waren das für Deutschland 28 US-Dollar, für das Vereinigte Königreich 69 für Frankreich 67 und für Griechenland 92 US-Dollar.

Der Marshallplan hat in ganz Europa fraglos große Not gelindert, so auch in Deutschland. Trotz nebenbei handfester ökonomischer Interessen der USA eine humanitäre Großtat. Und unter dem Schatten der drohenden sowjetischen Expansion zudem glücklicherweise die bewusste Alimentierung für die Freiheit der westlichen Demokratien. Das alles unbenommen, eine ausnehmende Bevorzugung Deutschlands war es aber ganz gewiss nicht.

Die 14 Milliarden US-Dollar entsprechen heute einem Geldwert von rund 100 Milliarden US-Dollar, also rund knapp 80 Milliarden Euro. Die 1,4 Milliarden US-Dollar Hilfe für Deutschland aus dem Marshallplan sind in heutiger Kaufkraft demnach etwa 8 Milliarden Euro – verteilt über fünf Jahre für damals 50 Millionen Einwohner. Man merkt, dass damit nicht viel mehr als Hunger-Stillen in dem bis 1950 gezielt deindustrialisierten Land machbar war.

Schauen wir uns jetzt den Beitrag Deutschlands heute in den diversen Rettungsmaßnahmen angesichts der europäischen Staatsverschuldungskrise an. Über den Rettungsschirm (EFSF und noch ungehebeltem ESM), die Staatsanleihen-Aufkäufe der EZB und die unausgeglichenen Target-Salden haftet Deutschland derzeit mit 795 Milliarden Euro für die kriselnden Partner in der Europäischen Union [siehe Haftungspegel des Ifo-Instituts hier vom 18.9.12]. Neben der im ESM enthaltenen Verpflichtung zur Bareinlagen von 22 Milliarden ist auch das Bürgen an sich selbstredend nicht umsonst. Je höher die Haftungssumme und je größer die Gefahr, dass der Bürge wirklich in Anspruch genommen wird, umso mehr schlägt die Bürgschaft bei der Refinanzierung der eigenen, beleibe auch nicht unerheblichen, Staatsschulden zu Buche. Derzeit zahlen wir ausnehmend niedrige Zinsen für unsere zwei Billionen Euro Staatsverschuldung. Eine absehbare Erhöhung der Kreditzinsen um nur einen Prozentpunkt beschert allein dem Bund Mehrkosten von jährlich 10 Milliarden Euro [siehe Bund der Steuerzahler].
Ganz zu schweigen davon, dass in der gegebenen Situation der GIPS-Staaten über dem Bürgen wahrlich das Damoklesschwert der Haftung schwebt, sprich die gesamte Summe im Feuer steht.
15,2 Milliarden Euro bilaterale Kredite hat Deutschland schließlich bisher direkt an Griechenland vergeben – Kredite und nicht Geschenke, um die akute Pflichtvergessenheit der korrupten griechischen Bürokratie nicht noch weiter zu befördern, und nicht weil irgendwer daran glaubt, dass das jemals zurückerstattet wird.

Will man also unbedingt in die Mottenkiste der geschichtlichen Vergleiche greifen, so ist – wenn man sich etwas Bedenkzeit jenseits billigem Schlagwortespuckens nimmt – schlicht festzustellen, dass sich das Hilfsengagement des kleinen Deutschlands in Europa heute keinesfalls zu verstecken braucht hinter dem Marshallplan der großen USA seinerzeit.

Viel wichtiger aber: Was sich beim genaueren Blick dahinter zeigt, ist eben nicht Geschichtsvergessenheit und Geiz, sondern ganz im Gegenteil ein ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein und eine quasi europäische Empathie. Bei allem äußerst berechtigtem Disput über die richtigen Maßnahmen zum langfristigen Erhalt eines friedlichen und prosperierenden europäischen Kontinents, Deutschland strengt sich mächtig an, jetzt das Richtige für Europa zu tun.

Vielleicht gelingt es Deutschland – Politik wie Bürgerschaft – nicht den zielführenden Rettungsweg einzuschlagen. Dann liegt das an den gigantischen Hebeln der Eskalation, die sich auf dem Pfad der zugespitzten Situation schon mit kleinen Fehltritten auslösen lassen. Aber nicht daran, dass man sich angesichts der Fußangeln gescheut hätte, sich auf den Weg zu machen.

Regelmäßig beklage ich an dieser Stelle Absurdes, Aberwitz und Unvernunft unseres Alltags. Das politische Bestreben zur Rettung der Europäischen Union und das bürgerschaftlich immer breiter werdenden Engagement dafür lässt sich aber – durchaus etwas unerwartet – da nicht einordnen. Tatsächlich greifen Vernunft und Moral zumindest in dieser Angelegenheit um sich. Schon lange nicht mehr wurde sich über eine gesellschaftliche Wegscheide so bewusst und so intensiv auseinandergesetzt. Wie gesagt mit mehreren diametralen Positionen, aber jedenfalls mit zukunftsträchtigem Verve. Das Absurde beschränkt sich hier auf die unvermeidbar Dummen, die unverbesserlichen Opportunisten und die unbelehrbaren Nationalisten. Derentwegen bedurfte es dieser Klarstellung, den anderen möge es als weiterer Baustein ihrer Befasstheit dienen.

Nö. - Nicht sehr viel. - Wir versuchen es.

Juli 2012 – Einmal abgesehen von der Frage, ob es in einer verantwortungsvollen Position wirklich angemessen ist, als Vater eine dreimonatige Babypause einzulegen – es ist ja nicht so, dass man nicht auch ohne Auszeit an der Erziehung seines Nachwuchses teilhaben könnte – dies also einmal hintan gestellt, möchte man im Falle Sigmar Gabriels aber schon noch einmal nachhaken, wenn er doch gleich wieder Pause von der Pause macht, um zwischen „Mariechen ist abgefüttert“ und „Mariechen hat Hunger“ die Komplexität des politischen Diskurses volksnah inszeniert auf getwitterte, notgedrungen (oder glücklicherweise?) argumentationsfreie 140-Zeichen-Stellungsnahmchen zu reduzieren.

Kaum zum Aushalten

Juni 2012 – Interview der Wirtschaftswoche mit Michele Marsching, Vorsitzender der PIRATENPARTEI in Nordrhein-Westfalen
Wirtschaftswoche: „Das war jetzt ein liberaler, ein sozialer Punkt. Haben wir damit die großen Linien der Piraten?“
Marsching: „Mmh, nein, also ich habe mir extra noch mal das Programm durchgelesen, aber jetzt habe ich wohl ein Blackout. Es fällt mir nicht mehr ein.“

Angesichts der Piraten wäre Max Webers berühmtes Diktum über die Eigenart der Politik wohl etwas anders ausgefallen: Politik bedeutet das beharrliche Glotzen von Löchern in der dicken Luft des extrarealen Lebensraums.

An gewisse demokratische Toleranzgrenzen stößt die Duldung solcher Inhaltslosigkeit, wenn jene sich die Erzeugung ihrer Luftlochschlösser nicht nur künftig durch ein bedingungsloses Grundeinkommen alimentieren lassen wollen, sondern es sich bereits jetzt erschleichen: Der politische Geschäftsführer im Bundesvorstand der Piratenpartei, Johannes Ponader, lebt als selbsternannter freiberuflicher Gesellschaftskünstler von Hartz IV, während er sich als hauptamtlich ehrenamtlicher Spitzenfunktionär verausgabt; seine „berufliche“ Situation erlaube mehr als eine 40-Stunden-Woche für die Partei, brüstete sich Ponader laut WELT schon bei seiner Bewerbungsrede. Da hilft es auch nicht, dass er sein Schmarotzertum mit dem alten Spießumdreh-Trick zu verschleiern sucht und die amtliche Kritik an seinem Verhalten „eine extreme Entartung des ganzen Systems“ nennt. Es bleibt doch mitfüßentretender Hohn gegenüber allen, die bei nicht minder großem bürgerlichem, sozialem und kulturellem Engagement tagsüber noch die Steuern für den Unterhalt von Herrn Ponader erarbeiten (nach seinem eigenen Getwittere derzeit monatlich circa 1.000 Euro Arbeitslosengeld II einschließlich Wohngeld).

Monkey Island VI

März 2012 – Das Selbstverständnis von Torge Schmidt, Spitzenkandidat der PIRATEN für die Landtagswahl in Schleswig-Holstein: „Ich bin Gamer und spiele hauptsächlich RPGs [Anm.: Role Playing Games] und Strategiespiele.“ (FAZ, 28.3.2012). Vielleicht sollte Herr Schmidt sich lieber in World of Warcraft zum König ausrufen lassen. Ums Kieler Parlament kümmern sich derweilen gerne Käpt’n Blaubär und Hein Blöd.

Feierfreier Sonntag

Januar 2012 – Mit Urlaub und Feiertagen kommen die deutschen Arbeitnehmer auf durchschnittlich 40 bezahlte freie Tage. Für die einen ist das der längste Urlaub der Welt, für die anderen einfach selbstverständlich. So selbstverständlich, dass daran doch, bitte schön, ein banaler Kalender nicht einfach etwas ändern darf. Verfügt das Kalendarium eigenmächtig den Feiertag auf einen ohnehin arbeitsfreien Sonntag, müsste man ja an diesem Tag doppelt frei machen. Das kann nicht angehen, meint DIE LINKE, und fordert, die Hälfte des Freimachens, die an jenem Sonnfeiertag nicht untergebracht werden konnte, werktäglich nachholen zu dürfen. Zur Begründung zieht Sabine Zimmermann, die arbeitspolitische Sprecherin der Linkspartei im Bundestag, Artikel 140 des Grundgesetzes heran. Darin steht: „Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt.“ Ihr scheint dementsprechend nicht zumutbar, die sonntägliche seelische Erhebung mit den Anstrengungen eines Feiertages zu belasten.

In den weiteren Ausführungen lässt Zimmermann aber dann die wahren Beweggründe aus dem Sack. Sie missgönnt natürlich den Arbeitgebern den zusätzlichen Tag zur selbstredend unterstellten Ausbeutung ihrer Arbeitnehmer. „Frei nach Marx lässt sich also sagen: Die Geschichte der Feiertage ist eine Geschichte von Klassenkämpfen.“ Verfassungsschutz, übernehmen sie.

Ein demokratischer Lichtblick

Oktober 2011 – In der Bundestagsdebatte um den Euro-Rettungsschirm (EFSF) hat Bundestagspräsident Norbert Lammert jüngst jeweils einem Abweichler in der Unions- und in der FDP-Fraktion Rederecht eingeräumt. Von ihren eigenen Fraktionen waren sie abgewiesen worden. Nach deren Willen sollte im Plenum eitel Sonnenschein der Einigkeit herrschen. Allein die ganz Linken hätten dann dagegengehalten. Tatsächlich hatten auch die Koalitionsfraktionen schwer um die richtige Position gerungen und es waren eben einige partout nicht auf die Regierungsräson einzuschwören – keinesfalls leichtfertig oder profilierungsneurotisch und durchaus mit mannigfaltiger fachlicher und öffentlicher Zustimmung. In der öffentlichen Debatte sollten die aber per Geschäftsordnung des Bundestages mundtot gemacht werden. Das hat Lammert verhindert. Bravo. Ein Sieg des Parlamentarismus. Lammert handelte auf äußerst dünner rechtlicher Basis, umso fester ist seine moralische. Was wäre das für ein demokratisches Parlament, das bei derart weitreichenden Entscheidungen (eine deutsche Haftung von 211 Milliarden Euro – ungehebelt – und die Währungsstabilität des gesamten europäischen Wirtschaftsraums betreffend) in einer so undurchschaubaren Situation, dass sich kein redlicher Experte wirklich eine Prognose traut, was wäre das für ein demokratisches Parlament, das da nicht im Entscheidungsmoment wirklich noch einmal alle Argumente zu Wort kommen lässt, bevor es unser Schicksal besiegelt. Lammert hat sich einmal mehr gegen die grassierende Kabinetts- oder besser Koalitionsausschuss-, wenn nicht gar Kanzler-Autokratie gestemmt. Nicht um der Kanzlerin zu schaden. Nicht um sich für die eine oder andere Seite einzusetzen. Sondern um unsere demokratische Verfassung zu bewahren. Um dem pluralistischen Wettstreit der Ideen den nötigen Raum zu geben – der einzigen Chance den richtigen Weg aus dieser unfassbar komplexen Krise zu finden.

Freight-Watchers

September 2011 – Es ist ja schon ein wirklich überbemühtes Bild, die Ankunft des orwellschen Big Brothers in der Gegenwart. Für das was das Verkehrsressort der Europäischen Kommission gerade vorhat, muss es aber doch einmal mehr herhalten. Zu gut passen die Brüssler Ideen zu Orwells Grauen vor der unheilvollen Allianz zwischen Totalitarismus und Hochtechnologie: In einem Vorschlag für eine Verordnung zur Änderung der Verordnung [sic!] schlägt die Kommission am 19. Juli 2011 – Gesetzgebungsverfahren 2011/0196 – vor, dass die Standorte von Lastkraftwagen und Bussen künftig via GNSS (Globales Navigationssatellitensystem) automatisch lückenlos verfolgt und aufgezeichnet werden sollen und die elektronischen Fahrtenschreiber (Lenk- und Ruhezeiten, Geschwindigkeit) in den Fahrzeugen jederzeit per Fernabfrage ausgelesen werden können. Nicht mehr und nicht weniger als die Totalüberwachung von Berufskraftfahrern also. Wenn schon Orwell, dann scheint mir, wäre da doch eher eine Gedankenpolizei für Kommissionsbeamte vonnöten oder vielleicht einfach ein wenig Nachhilfe in den demokratischen Grundprinzipien unserer Gemeinschaft, nach denen man in den Menschen zuerst einmal Staatsbürger und nicht Verbrecher sieht, Souveräne und nicht verantwortungslose Untertanen. Weil man jemand zu dem macht, wie man ihn behandelt.

Links-Progression

September 2011 – Staatlich garantierter Mindestlohn, staatliches bedingungsloses Grundeinkommen, staatlich finanzierter kostenloser öffentlicher Personennahverkehr, staatlich bereitgestellte kostenlose Kitaplätze – Staat-as-Staat-as-can! Solcherlei Überzeugungen und Versprechen haben die Berliner gerade mit absoluter Mehrheit (wieder)gewählt: Im neuen Abgeordnetenhaus sitzen dreiviertel dezidiert linke und sozialistische Volksvertreter – inklusive der ach so hoch gelobten jungen „demokratischen“ Kraft, den Piraten, deren Spitzenkandidat (und jetzt Fraktionsvorsitzender) im Interview die Berliner Verschuldung auf „viele, viele Millionen“ geschätzt hatte. Und deren Parteigänger sich in der realen Welt gerne vom Staat umfassend bekümmern lassen wollen, damit sie sich ungestört in eine möglichst staatsmachtlose virtuelle Welt verkriechen können; mehr billigen Opportunismus gab es selten in einer Partei.

Die Wähler haben eindeutig fürs „weiter so“ plädiert. Weiter so mit tatsächlich 64 Milliarden Schulden der Stadt Berlin (Stand September 2011 – annähernd eine Verdopplung in der bisherigen Ära Wowereit, 2001 waren es noch 38 Milliarden) und damit bitte, gerne weiter so mit dem mit Abstand größten Zuschuss aus dem Länderfinanzausgleich von jährlich rund 3 Milliarden Euro, weiter so mit 13,6% Arbeitslosenquote (2010), weiter so mit der Schlusslaterne im deutschen Ländervergleich zur Überprüfung der Bildungsstandards im Fach Deutsch (2009) – gemeinsam mit Bremen, Brandenburg und Hamburg – oder weiter so mit 168.967 Kinder in Hartz-IV-„Familien“ (41% aller Berliner Kindl).

Selten wurde eindrucksvoller belegt, wie wenig besonders viel staatlicher Interventionismus bewirkt. Die Berliner SPD verspricht in Ihrem BERLINprogramm 2011 – 2016 „die Gleichheit der Lebensverhältnisse in der ganzen Stadt“ – angesichts ihrer Regierungsbilanz muss man das als Drohung verstehen: die Neuköllnisierung der ganzen Stadt.

Aus dem Landtag

Mai 2011 – Eigentlich hätte ich es ja wissen müssen, habe ja sogar selbst schon darüber geschrieben, aber dann war es doch wieder ein Erschrecken ob dieses Trauerspiels der Demokratie: die Plenarsitzung gewählter Volksvertreter eine Bundeslandes. Warum trifft man sich überhaupt in „Voll“versammlungen und überträgt sie sogar live im Internet, wenn das Ganze doch nur als Abgesang des Pluralismus und der (Diskussions-)Kultur daherkommt.

Das kleine Häuflein, das sich die offenbar größtenteils schlecht vorbereiteten und vornehmlich tröge, oft stockend vorgetragenen Redebeiträge antut, hineingetupft in die gähnende Leere des Plenarsaals einschließlich der Kabinettsbänke, beschäftigt sich unübersehbar mit allem, nur nicht mit dem, was gerade zur Diskussion steht. Die Landtagspräsidentin kommt nicht hinterher, zu ermahnen, um immer wieder dem überlauten Geschwätz Einhalt zu gebieten. Es wird gemailt, gesimst und schamlos offen telefoniert, es wird in Kleingrüppchen diskutiert, gegähnt, gedöst und hat man qua entsprechender Konditionierung doch bei einem Stichwort aufgemerkt, wird anstandslos dazwischen geprollt (wenn sich nicht gerade jener, überhaupt nur deswegen in die Sitzung begeben hat, um eben gerade da zu plärren). Gefehlt hat eigentlich nur Essen und in der Nase Popeln.

Besonders tragische Aufzüge sind die dialogischen Inszenierungen der Zwischenfragen. Nicht wegen ihrer Polemik, Schärfe oder weil man den Redner bewusst aus der Reserve locken will. Nein, sondern weil diese Frage-und-Antwort-Zwischenspiele ein einziges unsägliches Aneinandervorbeigerede sind. Da reicht es nicht einmal dazu, dass man den anderen auch nur halbwegs verstanden hätte, geschweige denn dass es einen aufeinander beziehenden Austausch von Argumenten gäbe.

Das Ganze ist derart fad und quälend ermüdend, dass man schon fast wieder Verständnis für die Abwesenden aufbringen möchte. Da hilft es auch nichts, dass regelmäßig beteuert wird, die eigentliche politische Arbeit fände in den Ausschüssen statt (kaum vorstellbar, dass es da anders zuginge) beziehungsweise würde in den Gremien der Ministerien und des Kabinetts abgestimmt. Das Plenum ist und bleibt aber der zentrale Ort der repräsentativen Demokratie. Und wenn die öffentliche pluralistische Auseinandersetzung zwischen den Volksvertretern hinfällig geworden sein sollte – und eben diesen Anschein geben die Plenarsitzungen – dann bräuchten wir gleich nur noch Parteipräsidien und könnten auf die Mandatsträger ganz verzichten. Das Foto mit der Besuchergruppe für die Heimatzeitung reicht allein nicht zur Rechtfertigung.

Bei der wirklichen Auseinandersetzung aller – Rede und Widerrede, Beifalls- und Missfallsbekundungen, Zwischenfrage und Intervention, Stellungnahme und Gegenfrage – ließe sich auch gleich nicht mehr ganz so leicht das Deckmäntelchen des Fraktionszwanges über das Gewissen ziehen (ganz abgesehen davon, dass bei entsprechend intensiver Beschäftigung erheblich weniger Gesetze, weniger Bürokratie zustande käme).

Also, Plenarsaaltüren auf, alle, wirklich alle, rein – Handys, Smartphones, Notebooks und so weiter müssen draußen bleiben – die ganze Truppe auf einen Ehrenkodex zur überzeugenden Rede und durchdachten Gegenrede vergattert und keiner kommt raus, bevor sich nicht zu jeder Debatte eine Zweidrittelmehrheit gefunden hat, diese Debatte zu beenden und über ihr Ergebnis abzustimmen. Oh, wie viel Vernunft könnte derart wieder Einzug in der Politik halten, allein schon weil man plötzlich zuhören müsste und mangels Ablenkung das eine oder andere Mal vielleicht dann sogar mitdächte.

Sprachlos

Juli 2010 – Artikel 42, Absatz 1, Satz 1 Grundgesetz: „Der Bundestag verhandelt öffentlich.“ Tatsächlich wurden zum Beispiel in der vergangenen 16. Legislaturperiode von rund 15.500 Reden mehr als ein Viertel nicht gehalten (genau 4.429), sondern nur schriftlich zu Protokoll gegeben. Von einer öffentlichen Verhandlung kann da wohl keine Rede sein. Doch selbst wenn das Plenum tagt, heißt das noch lange nicht, dass man es immer Verhandeln nennen könnte. Dazu müssten die Abgeordneten ja mehrheitlich anwesend sein. Und nicht nur physisch, sondern auch geistig. Unter Parlamentariern aller Couleur grassiert aber Smartphonobie. Auch während den Sitzungen wird eifrig gesimst, getwittert, gemailt und was sich noch alles mit Zwei-Daumen-Technik unterm Tisch verarbeiten lässt. Laut dem Vorsitzenden des Geschäftsordnungsausschusses des Bundestags, Thomas Strobel (CDU), gibt es aber eigentlich eine Übereinkunft der Bundestagsfraktionen, dass „die Nutzung von Laptops, von Handys, das Telefonieren im Plenarsaal selbst unerwünscht ist“. Bei derart zur Schau getragener Gleichgültigkeit, ja Missachtung der demokratischen Institutionen, wen wundert da noch die wachsende Politikverdrossenheit in der Bevölkerung. Der Fisch stinkt vom Kopfe her.

Umsteuern

Juni 2010 – Ungeachtet der Finanz-, Wirtschafts- und Eurokrise werden die Steuereinnahmen in Deutschland 2013 wieder den Stand von 2008 – zu Zeiten bester Konjunktur – erreichen und für 2014 werden mit 581,5 Milliarden Euro die höchsten Steuereinnahmen in der Geschichte erwartet (Arbeitskreis Steuerschätzung beim Bundesfinanzministerium). Aber auch 2009 und 2010 wurden und werden per anno deutlich mehr Steuern eingenommen als noch 2006 (488,4 Milliarden Euro) oder jemals davor (tatsächlich waren es nur 2007 und 2008 mehr Steuern).
Angesichts solch sprudelnder Einnahmen und bei 1,7 Billionen Euro expliziter Staatsverschuldung ist es gelinde gesagt wenig ambitioniert, wenn die Bundesregierung nur anstrebt, bis 2016 die jährliche nicht konjunkturbedingte Neuverschuldung auf rund 10 Milliarden Euro zu drücken (3,5 Promille des Bruttoinlandsproduktes entsprechend der Schuldenbremse des Grundgesetzes).

2014 werden 100 Milliarden Euro mehr Steuern eingenommen als 2006 und die Bundesregierung hofft, dass sie es bis 2016 schafft, nur 10 Milliarden Euro jährlich zusätzliche, neue Schulden zu machen. Das ist doch bitte schön hochgradig absurd!

Bereits heute muss der Staat jeden achten eingenommenen Euro für Schuldzinsen aufwenden. Die stetige Neuverschuldung bedeutet daher rapide abnehmende politische Handlungsspielräume. Das ist Raubbau an der Zukunft unserer Kinder und Enkel – vorsätzlich und unverantwortlich!

Wahlfreiheit

Oktober 2009 – 70,8 Prozent betrug die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2009 laut amtlichem Endergebnis. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik waren die Geschicke unserer Nation so vielen Bürgern egal: 18,2 Millionen Nicht-Wähler. Nicht einmal die größte Weltwirtschaftskrise der Nachkriegszeit vermochte es, die Menschen zu politisieren. Dem Souverän ist seine Souveränität zu mühselig geworden.

Wir riskieren die demokratische Verfassung unserer Gesellschaft. Und damit den Frieden. Kant meinte in seiner Schrift Zum ewigen Frieden 1795: „Wenn (wie es in dieser Verfassung nicht anders sein kann) die Bestimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, ‚ob Krieg sein solle oder nicht’, so ist nichts natürlicher, als dass sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müssten (als da sind: selbst zu fechten; die Kosten des Krieges aus ihrer eigenen Habe herzugeben; die Verwüstung, die er hinter sich lässt, kümmerlich zu verbessern; zum Übermaße des Übels endlich noch eine, den Frieden selbst verbitternde, nie [wegen naher immer neuer Kriege] zu tilgende Schuldenlast selbst zu übernehmen), sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen.“ Nur die Verwurzelung einer Staatsführung in der Bevölkerung – die Volksvertretung – gewährleistet die untrennbare Verquickung von politischem Handeln mit den daraus resultierenden Folgen. Die Verachtung von Parlamenten, Politikern und Parteien – so kritikwürdig deren Gebaren im Einzelfall sein mag – heißt diese Garantie fahrlässig aufzugeben. Nicht-Wahl ist keine politische Entscheidung, sondern die Aufgabe der Teilhabe an einem Gemeinwesen.

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