GERD MAAS

Arbeit & Soziales

Das alte Neue aus Absurdistan in der Kategorie Arbeit & Soziales - 16 Beiträge

Gefühlsduselei

März 2017 – Sachen gibt’s, die gibt’s gar nicht. Zum Beispiel: einen Feelgood-Manager. Das gibt’s doch nicht, sagen Sie? Sag ich doch: Sachen gibt’s … Googlen Sie mal.

Es gibt sogar eine vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation entwickelte Berufsbeschreibung von Feelgood-Managern als Unternehmenskulturgestalter. Und es gibt natürlich Ausbildungen. Die Firma Goodplace bietet die Fraunhofer-Certified Feelgood-Manager-Ausbildung an. Für 3.100,- Euro. Wie mir scheint arbeiten da ein paar Sellgood-Manager.

Die Gründerin von Goodplace meint, es geht darum, „das Menschliche im Arbeitsleben zu fördern und den Menschen wieder wichtig zu nehmen“. Ich hatte es ja fast befürchtet, dass jetzt irgendwann einmal die Peitsche am Arbeitsplatz verpönt wird. Jetzt darf man also nur noch Zuckerbrot verteilen, um seine Mitarbeiter die durchschnittlich gewöhnliche Wochenarbeitszeit von 35 Stunden am Arbeitsplatz festzunageln (immerhin 41 Stunden, wenn man nur die Vollzeitkräfte nimmt - auch nicht lebensaufzehrend).

Irgendetwas ist irgendwann in dieser Wirtschaft quergelaufen, das ich irgendwie nicht mitbekommen habe. Dass Mitarbeiter Menschen sind, war mir eigentlich auch ohne Fraunhofer-Zertifikat klar. Und ich wüsste jetzt keinen Unternehmerkollegen, der das anders sieht. Fraglos gab es einmal Sklaventreiber (und gibt es sie noch in anderen Teilen dieser Welt), aber ist im Deutschland des 21. Jahrhunderts tatsächlich irgendwo Unmenschlichkeit im Arbeitsleben zu beklagen?

Das Wort Humankapital ist zwar heute eher verpönt, trifft aber die unternehmerische Grundhaltung eigentlich perfekt. Das Wort Kapital kam im 16. Jahrhundert aus Italien zu uns: capitale war die Kopfzahl einer Viehherde und bedeutete Reichtum. Ich schätze mal, das mit der Viehherde weiß kaum jemand, aber Unternehmer verstehen sehr wohl unter Humankapital den Reichtum der Unternehmung an menschlicher Schöpfer- und Arbeitskraft.

Die Mitarbeiter sind der Schatz eines jeden nicht Ein-Mann-Unternehmens. Wie sollte ohne sie produziert werden? Mit Verlaub, jeder Unternehmer und jeder Manager, dem erst erklärt werden muss, die Mitarbeiter wichtig zu nehmen, hat schlicht keinen Erfolg.

Die Haarspalterei, ob man den Mitarbeiter als Mitarbeiter oder den Mitarbeiter als Menschen wichtig nimmt, ist dabei genauso oberflächlich naheliegend wie unsinnig. Ich habe Mitarbeiter, weil ich Geist, Kreativität, Flexibilität etc. brauche – menschliche Eigenschaften – keine Maschinen. Daher heißt, Mitarbeiter wichtig zu nehmen, unweigerlich Mitarbeiter als Menschen wichtig zu nehmen.

Umgekehrt heißt aber Mitarbeit auch, seine Fähigkeiten und Fertigkeiten gegen Entgelt für eine gemeinsame Sache einzusetzen. Das entsprechende Feelgood ist eine florierende Unternehmung, bei der man mit dabei ist. Mitmacht. Mitarbeitet. Dazu sind Loyalität und Leistungsbereitschaft erforderlich. Die sind dem Arbeitgeber auch ohne arrangierte Teamevents und Wohlfühlecken geschuldet. Mir scheint, dass man darauf in diesen Zeiten tatsächlich ausdrücklich hinweisen muss.

In der Psychologie wird ein beglückender Flow als die machbare Bewältigung von Herausforderungen beschrieben. Genau dann herrscht auch Produktivität. Dass ist die originäre Aufgabe aller unternehmerischen Führungs-, Organisations- und Koordinationsaufgaben. Alles darüber hinaus sollte man dem Privatleben und der Selbstorganisation überlassen. Und dem besten Feelgood-Manager, einer Familie, zu der man nach der Arbeit heimkommt, mit der man heutzutage viel Zeit verbringen kann und die man mit seinem Beruf ernährt.

__ Dieser Beitrag erschien zuerst bei Tichys Einblick unter dem Titel Feelgood-Manager und Unternehmenskulturgestalter?

Krankenscheinheiligkeit

September 2013 – Am eingeklemmten Freitag krankgeschrieben wegen einer ganz unvermittelt aufgetretenen Sommergrippe und dann auch noch Pech, dass man tags drauf am Samstag beim Baden – weißt du, da ging’s mir plötzlich wieder viel besser – in eine Scherbe getreten ist, weswegen man dann nicht gleich ins Krankenhaus fährt, sondern mit dem Arztbesuch bis Montag wartet. – Ein missleidiger Auftrag und schon sind just die beiden, die ihn erledigen sollen, gerade in dieser Woche krank. Gleichzeitig, gleich lang. – Wundersame Heilung erfahren hingegen mehrtägig Kranke gegen ärztlichen Rat gerne am Freitag, wenn Sie am Wochenende auf eigene Kasse tätig werden wollen. – Sehr beliebt auch die kryptische, aber nichtsdestoweniger urlaubsverlängernde Krankmeldung per Fax aus fernen Ländern. – Zumindest in meiner Wahrnehmung haben solche Geschichten geradezu epidemische Inflation.

Die Arbeitsmoral liegt danieder. Das Bewusstsein, dass, wenn man nicht selbst es tut, andere zur Erwirtschaftung des eigenen Lohns arbeiten müssen, schwindet. Wer dementsprechend auch noch zu blöd ist, sich fürs Blaumachen selber was auszudenken, schaut bei www.krankheit-simulieren.de oder www.richtig-krankmachen.de nach oder auf unzähligen anderen Webpages. Oder bei den Krank-Schmink-Tipps von Bravo oder in Artikeln von Men’sHealth, Amica oder in der taz; die meint bei Hitze am Arbeitsplatz dürfe man „Selbstverständlich blaumachen“.

Das alles in Zeiten historisch und global niedrigster Arbeitsbelastung: 30 Tage bezahlten Urlaub haben die deutschen Arbeitnehmer durchschnittlich, außerdem zum Beispiel hier in der Gegend 13 gesetzliche Feiertage; je nachdem, wie die liegen, sind das zwischen sieben und neun freien Wochen im Jahr – plus alle restlichen Wochenenden, also insgesamt zwischen 87 und 94 arbeitsfreie Tage pro Jahr bei Vollzeitbeschäftigung.
Dazu kommt die weltweit beinahe einmalig niedrige durchschnittliche effektive Arbeitsleistung der Deutschen von 1.413 Stunden pro Jahr (2011, OECD). Das ergibt dann gerade einmal gut sechs Stunden Erwerbsarbeit pro Arbeitstag. Da könnte man sogar zwei Arbeitstage in einem schaffen (und hätte dann bei entsprechendem Überstundenausgleich rund 200 Tage im Jahr frei).

Da verschlägt es einem dann schlichtweg die Sprache, wenn angesichts solcher Fakten jemand allen Ernstes eine Anti-Stress-Verordnung im Arbeitsschutzrecht fordert, wie es die SPD in ihrem Programm für die Bundestagswahl 2013 tut (S. 21). Wegen dem „Druck“ und der „verdichteten Arbeitsabläufe“. Und den entsprechend angeblich zunehmenden psychischen Belastungen. Die sind tatsächlich inzwischen die zweithäufigste Ursache für Krankschreibungen überhaupt – durchschnittlich 204 Fehltage pro 100 Beschäftigten per anno.

Eine kluge Freundin hat die Realität dahinter schön auf den Punkt gebracht: Seitdem man Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems immer besser mit der Kernspintomografie untersuchen kann, nehmen die psychischen Erkrankungen zu. Bei denen bedarf es auch gar keiner großen Fertigkeiten des Simulantentums – Krank-Schminken- oder Web-Tipps können Sie sich da sparen. Denn hier treffen Diagnosewunsch und –wille aufeinander. „Patient“ und Behandler sind gleichermaßen von der Überzeugung Das-wäre-doch-gelacht-wenn-wir-da-nichts-finden getrieben. Win-win. Reste eines schlechten Gewissens beim Krankfeiern werden entsprechend leichter überwunden.

Mehr als ein Indiz sind hierfür die überbordenden Krankheitsdefinitionen der Psychiatrie. Prüfungsangst ist Krankheit. Wer mehr als zwei Wochen trauert, ist krank (in den achtziger Jahren hatte man wenigstens noch ein Jahr als psychiatrisch legitim erachtet und selbst das ließe sich ja in Frage stellen). Jedem lebhaften Kind wird flugs ADHS nachgesagt, jedem faulen kann bei Bedarf Legasthenie oder Dyskalkulie bescheinigt werden. Die Trotzphase avanciert leicht zur disruptiven Launenfehlregulationsstörung. Auch wer schüchtern ist, könnte krank sein. Wer leicht mal was vergisst, hat eine Aufmerksamkeitsstörung. Wer Alltagssorgen hat, ist depressiv. Einer von achtzig Menschen gilt als Autist. Wer sich überfordert fühlt, lässt sich gegen Burn-out behandeln, wer sich unterfordert fühlt gegen Bore-out. In fast jeder Normalität steckt inzwischen ein diagnostizierbares Krankheitsbild. In der Psychiatrie ist am Ende alles eine Frage der Definition meint der Spiegel im Artikel „Schwermut ohne Scham“ in der Ausgabe 6/2012. Ein Eldorado für Therapeuten – und Blaumacher.

Allen Frances, emeritierter US-amerikanischer Psychiatrieprofessor, eine Koryphäe des Fachs und federführend für die vierte Auflage (1994) des Diagnostischen und statistischen Handbuchs psychischer Störungen (DSM-4), dem weltweit entscheidenden Klassifikations-Manuals für psychische Erkrankungen, kommentiert die Neu-Auflage dieses Standardwerks 2013: „Ich befürchte, dass das ‚DSM-5’ viele Türen aufstoßen wird, die man später nicht mehr schließen kann. […] im ‚DSM-5’ werden die Grenzen so ausgeweitet, dass viele zu Patienten werden, die nicht wirklich krank sind, sondern einfach in einer schwierigen Phase ihres Lebens“ (im Welt-Interview vom 22.04.2013).

Und es werden solche zu Patienten, die ihr Leben gerne für krank erklärt haben wollen. Weil sie Dauertherapie einem selbständigen Dasein vorziehen (therapieren Sie schon oder leben Sie noch?). Weil die Therapie der Ablass der modernen Konsumreligion geworden ist. Weil es so leicht geworden ist, sich von jeglicher Verantwortung diagnostisch befreien zu lassen.

Und es werden schließlich solche zu Patienten, die sich ob dieser beinahe unglaublichen Leichtigkeit des Krankseins ins Fäustchen lachen. Ich bin dann mal gaga.

Krankes System

Juni 2012 – Deutsche Regierungsbeamte melden sich 16 Tage im Jahr krank – so viel wie sonst nirgendwo in der OECD (Government at a Glance 2011). Deutsche Unternehmer sind nur knapp sieben Tage im Jahr nicht auf ihrem Posten (BKK Gesundheitsreport 2011). Geldausgeben ist offensichtlich deutlich kräftezehrender als Geldverdienen.

Kinderarbeit

Juni 2012 – Ein paar wirklich einfache Gedanken zum Betreuungsgeld:
Wenn der gegebene und künftige Staatshaushalt (trotz sprudelnder Steuereinnahmen) eine Neuverschuldung vorsieht, dann lassen sich weitere, zusätzliche Ausgaben unweigerlich auch nur mit neuen Schulden finanzieren. Die Einführung des Betreuungsgeldes bedeutet also unmittelbar Neuverschuldung.
Schulden, zumal Staatsschulden, das lässt man gerne abstrakt klingen; so als müssten sich daraus nicht irgendwelche Wirklichkeiten ergeben. Jede Schuld ist man aber jemandem schuldig. Jede Schuld ist das Eingehen einer Verpflichtung zu einer Gegenleistung (bei den Staatsschulden also zum Beispiel gegenüber Lebensversicherungen, die Staatsanleihen gekauft haben, um durch die Verzinsung dieser Anlage ihren Kunden eine private Altersvorsorge zu gewährleisten).
Je nach Laufzeit bis zur vollständigen Tilgung können bei langen Fristen Schulden an sich schon eine Übertragung dieser Leistungsverpflichtung auf künftige Generationen sein. Wenn zwei Generationen Jahr für Jahr immer nur mehr Schulden machen, ist das garantiert so. Heutige Neuverschuldungen sind also garantierte Leistungsverpflichtungen der heranwachsenden und künftigen Generationen.
Die Lasten des Betreuungsgeldes werden so sehenden Auges unseren Kindern und Kindeskindern aufgehalst. Und zwar ausschließlich. Heute muss da keiner einen Finger dafür krumm machen. Mit dem Betreuungsgeld zwingt der Staat die Kinder ihre Mütter für ihr Muttersein zu bezahlen. Alle. Alternativlos. Ohne Not.

Schmerztherapie

April 2012 – Der renommierte Neurobiologe Gerald Hüther weist in einem „Zwischenruf“ für das Denkwerk Zukunft [Link] darauf hin, dass es der Hirnforschung gelungen ist nachzuweisen, dass soziale Kränkungen die gleichen neuronalen Netze aktivieren, wie körperlicher Schmerz. Eine Erkenntnis, die sich, vielleicht nicht so krass, aber doch mit der menschlichen Alltagserfahrung deckt: In beiden Fällen muss man ab einer gewissen Intensität die Zähne zusammenbeißen, wenn man nicht schreien will. So weit, so nachvollziehbar. Dann gleitet Hüther ab ins Hypothetische, wenn er ausführt, dass eben jenes soziale Zähne-Zusammenbeißen dick und krank macht. Er unterstellt, dass eine herrschende „chronische“ Unterdrückung solch sozialer Schmerzen aus den Anfechtungen unseres vorgeblich ach so strapazierenden Gemeinwesens die sonstige Schmerzsignalgebung übertüncht, worauf das Körpergefühl verloren geht. Die Wirkung mag wohl richtig sein, nur die Ursache erscheint mir arg tendenziös vereinfacht.

Zum einen setzt Hüther geflissentlich die „Lebensbeschleunigungs-These“ voraus, also die zunehmende Überforderung allein aus der Bewältigung eines angeblich immer schnelllebigeren Alltags. Wie ich schon des Öfteren ausgeführt habe, eine zu Zeiten historisch und global einzigartigen Wohlstandes und ebenso außerordentlich geringer Arbeitsbelastung sehr gewagte These. Zum anderen lässt der dargestellte Zusammenhang ja per se zwei ursächliche Schlüsse zu: mehr Unterdrückung sozialer Schmerzen oder die Abnahme der Fähigkeit mit den gegebenen sozialen Anfechtungen leidlich zurechtzukommen. Dass wir also nicht mehr die Zähne zusammenbeißen müssen, sondern dass wir nicht mehr so gut Zahne-Zusammenbeißen können (wollen). Diese zweite Option verschweigt Hüther; sie erscheint mir aber angesichts des gegebenen Lebensumfelds im Deutschland des 21. Jahrhunderts erheblich plausibler.

Was mich, bei allem Respekt, an solchen Hypothesen besonders ärgert, ist, dass damit einmal mehr die Menschen von der eigenen Verantwortung für ihr Wohlbefinden entbunden werden: Du allein kannst nichts dafür, die Gesellschaft ist es, das Leben an sich ist schuld. Nicht dein unverantwortliches Verhalten macht dich dick und krank, sondern das schlimme soziale Beziehungsgeflecht, in das du unschuldig hineingeboren wurdest. Die „Verbesserung unserer Beziehungskultur“ fordert Hüther kryptisch und verschweigt, wer der alleinige Träger von Kultur ist: jeder Einzelne. Dabei würde sich die Kultur schon ganz erheblich verbessern, wenn man wieder aufhören würde loszuplärren, allein weil man scheinbar schief angesehen wurde.

Orientierungshilfe

März 2012 – Ein Vortragsessay über richtige und wichtige Einstellungen in Schule, Ausbildung und Beruf: Das Leben ist kein Facebook-Spiel
pdf-Download Das Leben ist kein Facebook-Spiel_Mrz-2012_Gerd Maas.pdf [90 KB]

Die Freiheit nehm' ich mir

Januar 2012 – Steinkühlerpause war gestern, heute ist Facebook. Jeder zehnte deutsche Arbeitnehmer ist länger als fünf Stunden pro Woche während der Arbeitszeit privat auf Facebook (Quelle: youCom GmbH, Hürth) – das macht rund 27 Arbeitstage im Jahr. Mal eben so den Urlaub verdoppelt. Ein Drittel facebookt ein bis zwei Stunden während der Arbeit, auch noch rund 8 Arbeitstage im Jahr. Das Verständnis einer Arbeitsethik als Selbstverpflichtung, weil man in seinem Beruf etwas zu schaffen beabsichtigt, schwindet offenbar. Oder sei es nur das profane Gefühl der Verpflichtung, eine Gegenleistung für den empfangenen Lohn schuldig zu sein.

Völlig losgelöst

Juli 2011 – Jeder fünfte Arbeitnehmer, 21 Prozent der Beschäftigten haben „keine emotionale Bindung an ihr Unternehmen“ und „verhalten sich am Arbeitsplatz destruktiv, d.h. sie zeigen unerwünschtes Verhalten“. Das hat der seit 2001 jährlich per repräsentativer Stichprobe erhobene Engagement Index der Gallup GmbH für 2010 ergeben. Weitere 66 Prozent weisen „lediglich eine geringe emotionale Bindung auf“, die leisten laut Gallup allenfalls Dienst nach Vorschrift. Dabei geben sich die deutschen Arbeitgeber wirklich Mühe, ihren Angestellten zu gefallen. Durchschnittlich 30 Tage bezahlten Urlaub gewähren sie – das ist ziemlich einsame Spitze in Europa. Bescheidene 37,7 Stunden war 2010 die durchschnittliche tariflich vereinbarte Wochenarbeitszeit in Deutschland. Wenn einem die Arbeit so leicht gemacht wird, sollte man sich ein bisschen Loyalität erwarten dürfen, oder? Ganz zu schweigen davon, dass man meinen möchte, dass den Menschen an ihrer menschlich unerlässlichen Notwendigkeit des Broterwerbs ein bisschen was gelegen sein sollte. Noch nicht einmal aus Dankbarkeit gegenüber jemanden, der bereit ist die Risiken und Anstrengungen auf sich zu nehmen, die mit dem Unternehmertum unweigerlich verbunden sind, sondern allein weil man weiß, dass man nur verdienen kann, wenn man etwas geschafft hat. Einmal mehr überkommt mich der Verdacht, dass sich ein wachsender Teil der Bürgerschaft gedanklich aus dem richtigen Leben ins real existierende Schlaraffenland gebeamt hat. Can you hear me, Major Tom?

Ohne Worte

Mai 2011 – Die alten Schätzungen der Stiftung Lesen zur Analphabetenrate müssen deutlich nach oben korrigiert werden. Das Bundesbildungsministerium hat eine neue Untersuchung vorgestellt: 7,5 Millionen funktionale Analphabeten gibt es in Deutschland; 7,5 Millionen erwachsene Deutsche, die beim Schreiben und Lesen zusammenhängender – auch schon einfacher, kürzerer – Texte scheitern, so dass sie in ihrer Sprachanwendung den gegebenen minimalen und als selbstverständlich erachteten gesellschaftlichen Anforderungen nicht gerecht werden. Weitere 13,3 Millionen zwischen 18 und 64 Jahren beherrschen die Rechtschreibung nicht einmal auf Grundschulniveau und lesen Texte mit gebräuchlichen Wörtern nur langsam und/oder fehlerhaft. Zusammen sind das 40 Prozent der deutschen Bevölkerung im Erwerbsalter. 40 Prozent, die in ihrem Alltag das Lesen und Schreiben, wenn möglich, vermeiden. (leo. Level-One Studie. Literalität von Erwachsenen auf den unteren Kompetenzniveaus, Prof. Dr. Anke Grotlüschen, Universität Hamburg 2011)

Laut unserem regionalen Chef der Agentur für Arbeit brechen 21 Prozent der Lehrlinge ihre Ausbildung ab. Nur die Hälfte von denen fängt danach wieder eine neue Lehre an. Sieben Prozent der Jugendlichen kommen erst gar nicht so weit und verlassen die Schule ohne Abschluss.

Das Bestreben, sich die grundlegenden Kompetenzen für ein selbstverantwortliches Leben und den eigenständigen Broterwerb anzueignen, ist offenbar in weiten Teilen der Bevölkerung gering. Statt zu lernen schauen sie sich lieber in der Glotze an, wie Kabel1 Boris Becker als Retter in Berliner Problemschulen schickt, weil „Boris macht Schule“. Das Anpacken ist passiviert, an Fernsehen und Staat delegiert. Man vertraut auf die Discounter-Werbung, es wäre alles „Besser als wie man denkt!“ (KiK).

Stresstest

April 2011 – Knapp siebeneinhalb Stunden verbringen die Deutschen durchschnittlich pro Tag mit Erwerbsarbeit (einschließlich Aus- und Weiterbildung) und unbezahlter Arbeit (wie Haushalt, Kinderbetreuung oder Altenpflege) – 445 Minuten täglich, der Rest ist frei. Das ist selbst im OECD-Vergleich äußerst wenig, in den USA sind es über acht Stunden, in Japan neun, in Mexico fast zehn. Im größeren Teil der restlichen Welt ist sowieso der ganze wache Tag von Arbeit geprägt und die Nacht zudem oft kurz. Denen muss es fast wie Hohn klingen, wenn der DGB-Vorsitzende Michael Sommer die deutschen Arbeitszeiten „familienfeindlich und gesundheitsschädlich“ nennt (gegenüber der WELT im September 2008). Kein Wunder, dass alle von Stress reden, bei solchen Souffleuren – mit Tatsachen hat das aber, wie man sieht, herzlich wenig zu tun.
(Datenquelle: Society at a Glance 2011: OECD Social Indicators)

Soziales Netz

September 2010 – Jetzt ist es passiert. Der Zugang zum Internet ist zum Menschenrecht avanciert. Zu Hause offline ist menschenunwürdig. Die neue Berechnung der Hartz IV-Sätze berücksichtigt ausdrücklich einen eigenen Internetanschluss für das soziokulturelle Existenzminimum. Der Gang zu einem öffentlichen Zugang – etwa in Büchereien, bei Arbeitsagenturen, in Jugend- und Stadtteilzentren oder in Volkshochschulen *) – ist offenbar existenziell unzumutbar. Es drängt sich die Frage auf, ob das, genauso wie die GEZ-Befreiung, im Hinblick auf eine erfolgreiche Wiedereingliederung ins Erwerbsleben nicht eher kontraproduktiv wirkt. Ganz zu schweigen davon, dass beim Glotzen und Surfen von einem Gebot der Solidarität wohl kaum die Rede sein kann.

*) 147 öffentliche Stellen mit kostenlosem Internetzugang gibt es zum Beispiel in Berlin (Quelle: Webkatalog der Stiftung Digitale Chancen)

Sozialabhängigkeit

Mai 2010 – Der Ökonom Guy Sorman hat am 6. Mai 2010 in der spanischen Tageszeitung ABS geschrieben: „Die Fundamente der Europäischen Union sind nicht kompatibel mit der Art und Weise, mit der die europäischen Staaten regiert werden. Damit ist gemeint, dass die Europäische Union von Grund auf liberal ist – so wird sie in der politischen Philosophie und von der Wirtschaft aufgefasst – und kann nur auf liberale Art und Weise geführt werden. Alle Mitgliedsstaaten hingegen – auch diejenigen mit konservativer Regierung – haben in der Praxis immense Wohlfahrtsstaaten nach sozialistischen Ideen aufgebaut.“ http://www.eurotopics.de

Der verhängnisvolle Totalitarismus des paternalistischen Wohlfahrtsstaates.
Erst hat diese Verballhornung der sozialen Marktwirtschaft seine Bürger bis zur Unmündigkeit von der Eigenverantwortung entfremdet, zu Zeiten wirtschaftlicher Krisen gefährdet sie nun gar die europäische Einheit und den Frieden: Die bedingungslose Verpflichtetheit zu jeglichem Ausgleich auch nur gefühlter sozialer Ungerechtigkeiten, macht es den europäischen Staaten schier unmöglich, einer Krise angemessen zu begegnen. Die Entkopplung der deutschen Renten von der wirtschaftlichen Entwicklung per Garantie, dass die Renten künftig nicht mehr sinken dürfen, im Mai 2009 mitten in der Weltwirtschaftskrise oder die griechischen Generalstreiks im Mai 2010 gegen die geplanten Sparmaßnahmen zur Konsolidierung des weit über Gebühr geplünderten Staatssäckels (z.B. durch relativ zur Beschäftigtenzahl fast doppelt so vielen Angestellten im öffentlichen Dienst wie in Deutschland, die zudem vielfach sehr gut besoldet sind), das sind Symptome der umfassenden Wohlfahrtstaatssucht in Europa. Einschränkung, Verzicht oder Streichungen finden sich daher kaum im Werkzeugkasten der Krisenbewältigung, nur Schulden und Geldmengenausweitung.

(PS.: Davon unbenommen ist, dass dem nutzlosen Finanzmarkttreiben einer kleinen unmoralischen Minderheit dringend Einhalt geboten werden muss!)

Lohnanstand

März 2010 – Damit sich Arbeit lohnt betitelt der Paritätische Wohlfahrtsverband eine Expertise vom März 2010 zum Einkommensunterschied zwischen Beziehern niedriger Erwerbseinkommen und Hartz-IV-Empfängern. Dieser sogenannte Lohnabstand bestimmt, ob ein Anreiz zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit besteht, sich Arbeit also im Sinne von „mehr als die staatliche Unterstützung“ lohnt. Dementsprechend lohnt sich Arbeit nicht, wenn man damit nicht mehr als den Sozialtransfer verdienen kann. Hier offenbart sich ein entscheidender Denkfehler im (inzwischen massenhaft) üblichen Verständnis unseres Sozialstaates. Es wird vollständig ausgeblendet, dass für die Verfügbarkeit von Sozialleistungen immer zu allererst einmal Arbeit notwendig ist … allerdings von anderen! Eigentlich bestünde eine solidarische Verpflichtung, so viel wie möglich für das eigene Auskommen selbst zu leisten, allein deswegen, um nicht anderen seinen Unterhalt aufzuhalsen. Diese Selbstverständlichkeit von Geben und Nehmen ist im deutschen Wohlstandswohlfahrtsstaat verloren gegangen.
Unter den gegebenen systematischen Voraussetzungen ist dieser Realitätsverlust tatsächlich niemandem zu verübeln. Unser gesellschaftliches Selbstverständnis hat sich auf Anspruchsdenken statt solidarisches Pflichtbewusstsein verlegt. Einen Wandel kann hier nur bewirken, dass bei gegebener Erwerbsfähigkeit jede staatliche Leistung immer unmittelbar eine individuelle Verpflichtung zur Gegenleistung begründet. Im Fall von Sozialtransfers also etwa die obligatorische gemeinnützige Vollzeittätigkeit oder ausnahmsweise (z.B. wenn die Zeit für Fortbildungen genutzt wird) die Rückerstattung als Sozialdarlehen. Am Rande: Auf Unternehmenssubventionen ist dieses Prinzip der unmittelbaren, individuellen Gegenleistung selbstverständlich entsprechend anzuwenden.

Sterntaler

Januar 2010 – Nicht nur dass das ehemalige Arbeitsamt sich seit geraumer Zeit in seinen modernen Centern um Jobs statt um Arbeit kümmert – also im gängigen Sprachgebrauch um „vorübergehende [einträgliche] Beschäftigung zum Zwecke des Geldverdienens“ statt um „Berufsausübung, Erwerbstätigkeit“ (Deutsches Wörterbuch des Zeitverlags 2005) – nun ist der Bundesagentur für Arbeit offenbar auch der Himmel auf den Kopf gefallen. Seit Oktober 2009 kann für die Ausbildung in „Psychologischer Astrologie“ einer Hamburger Astrologin und Heilpraktikerin staatliche Förderung beantragt werden. „Dies bedeutet für Arbeitssuchende mit astrologischen Ambitionen eine besondere Chance: Ihre Ausbildungsgebühren können zu 100% von Deutschen Behörden übernommen werden“, wirbt die „Bildungs“anbieterin. Auf Kosten der Steuerzahler/Arbeitslosenversicherungspflichtigen werden da „Mondknoten historisch und psychologisch“, „lebendiger Umgang mit den Orben“, „Uranus psychologisch gesehen und im Fragebogen“ oder „Visionen und Sinngebendes im LebenFlexibilitätstraining zu den Aspekten: Umgang mit Horoskopen ohne eingetragene Aspekte“ memoriert. Mit Verlaub, das scheint mir himmelschreiend.

Arbeitsunwilligkeitsbescheinigung

Oktober 2009 – In der ZEIT vom 24. September 2009 wird eine Studie der Forschungsgruppe Psychosomatische Rehabilitation an der Berliner Charité zitiert, nach der 75 Prozent Patienten, die wegen psychosozialen Problemen krank geschrieben wurden, nach Ansicht von Zweitgutachtern eigentlich arbeitsfähig gewesen wären. Nach einer Untersuchung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin gingen der deutschen Volkswirtschaft 2006 rund 65 Milliarden Euro Bruttowertschöpfung insgesamt durch Arbeitsunfähigkeit verloren. Nachdem jeder zehnte Arbeitsunfähigkeitstag auf psychische und Verhaltensstörungen zurückgeht, ergibt das einen Verlust von rund 5 Milliarden Euro Bruttowertschöpfung p.a. durch Psycho-Blaumacher. Ein Anhaltspunkt für die gegebene Dimension des dekadenten Solidaritätsdefizits unserer Gesellschaft. Die grassierende Lustlosigkeit kommt der Gemeinschaft teuer zu stehen.

Freizeit

Juni 2009 – Deutschland ist Vize-Weltmeister bei der Freizeit. Laut der OECD-Studie Society at a Glance 2009 haben die Deutschen an jedem normalen Tag durchschnittlich 6 Stunden und 35 Minuten Freizeit – müssen also nicht erwerbsarbeiten und beschäftigen sich nicht mit Hausarbeit, Körperpflege, Schlafen, Essen oder Bildung. Tatsächlich braucht ein Großteil der Bevölkerung diese Menge Freizeit auch, um das tägliche Fernsehpensum zu bewältigen. Sechseinhalb Stunden, da wäre eigentlich viel Zeit für ehrenamtliches Engagement in Vereinen, Parteien oder kirchlichen Laienorganisationen – die kämpfen aber allerorts mit Mitgliederschwund. Die neuen OECD-Zahlen sind wieder ein eindrücklicher Beleg gegen die gerne kolportierte These der Beschleunigung unseres ach so hektischen modernen Lebens.

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