Archiv 2011/2012

Dreaming of a White Summer

Dezember 2012 – Ah, wie schön ist es doch, wenn’s endlich mal wieder richtig schneit – walking in a winter wonderland. Wenn nur die weiße Pracht nicht immer mit Kälte verbunden wäre. Warum muss es immer Winter sein, wenn es schneit. – Aber halt, das muss ja doch gar nicht sein. Kommen Sie mal mit, ich hab da was für Sie. … – Wir wissen nicht, was dieser freundliche Urlaubsagent des Dubai Indoor Ski Resort empfiehlt. Wir empfehlen eine moderne Schneemaschine, da können Sie die nächste Schneeballschlacht problemlos auf den Sommer verlegen. Mit der mobilen SnowBox 6100L lassen sich zum Beispiel noch bei 35° C gut vier Kubikmeter Schnee in der Stunde herstellen und zu jeder beliebigen Eventgelegenheit in die Gegend spritzen. Benötigt werden dafür nur rund 1.000 Liter Wasser sowie 100 Kilowatt-Stunden Strom – in einer Stunde der Stromverbrauch einer durchschnittlichen Familie für mehr als eine Woche. Wer das von der SnowBox erzeugte Scherbeneis nicht als echten Schnee akzeptiert, braucht nicht zu verzagen. Mit einem Vakuum-Schnee-Erzeuger wie dem hallengroßen IDE Snowmaker lassen sich annähernd echte Schneekristalle erzeugen – at any temperature verspricht der Hersteller. Über 70 Kubikmeter Schnee in der Stunde schaffen solche Anlagen, in denen Aggregate arbeiten, die einige 1.000 Kilowatt Leistung haben (da kommt man dann leicht einmal auf den Jahresstromverbrauch einer durchschnittlichen Familie, der da in ein, zwei Stunden durchrauscht). Die Pitztaler Gletscherbahnen ermöglichen sich damit zum Beispiel einen frühen Saisonstart im Herbst – damit die Gäste für den Wintersport nicht auf den kalten Winter warten müssen. 30 Tonnen Ingenieurskunst, um, nur so zum Spaß, dem Wetter ein Schnippchen zu schlagen.


Geschäft machen

Oktober 2012 – Es ist ja heute eher selten, dass sich jemand jenseits bewirteter oder zumindest Dixi-bewehrter Natur bewegt. Kaum ein aussichtsreicher oder ansichtswürdiger Fleck dessen Zugang nicht stöckelschuhfähig trassiert wäre, nebst allen notwendigen Einrichtungen drum herum für die wesentlichen Bedürfnisse der Sandalenritterscharen – insbesondere den Ein- und Ausgang des Stoffwechsels betreffend. Kaum ein Ort ohne Örtchen also. Wenn es welche auch heute noch weiter treibt, in archaischere Gefilde der sanitären Unerschlossenheit, dann zumeist nur solche, die sich nicht viel darum scheren, zu Zeiten ihr Hockerl zu machen oder die vielleicht sogar einen gepflegten Spatengang zu arrangieren wissen. Für was in aller Welt brauchen wir also ein faltbares Papp-Klo, die Shitbox der Brown (sic!) Corporation aus London, die gerade auch in Deutschland nach Verbreitung sucht. Ein aufklappbarer Thron aus Wellpappe, wenn man ohne Komfortverlust mal den Fichtennadelduftklosteinen zu Hause mit einem Pappstuhlgang im Stadtpark entfliehen möchte. Ich mach’ mir jetzt schon in die Hosen, wenn ich mir die erste Begegnung mit einem Shit-Box-Pooper in freier Wildbahn ausmale. Gemacht werden soll in biologisch abbaubare Poo Bags, die danach …, ja was macht man denn damit danach – mit heim nehmen und ins Komposteimerchen auf den Balkon schmeißen? Und was wenn dereinst einen wandernden Faltklogänger der Schlag trifft und er in der zur Verrichtung aufgesuchten Stille nicht gefunden wird? Was werden Forscher über unsere Zeit mutmaßen, wenn sie in 5.000 Jahren einen Ötzi entdecken, der mit heruntergelassenen Hosen im Wald auf einer Schachtel sitzt?


Marshall vs. Merkel

September 2012 – Eine Klarstellung scheint mir dringend angebracht, etwas Aufklärung im herrschenden Wirrwarr der wechselweise schwelenden und auflodernden Debatte um den rechten Weg zur Rettung des Euros, der Europäischen Union oder gar überhaupt des Friedens unter den europäischen Völkern – denn um was sonst als das Letztgenannte geht es im Grunde; eben darum ist auch die Inflation der Beschäftigungen damit und der Kommentare dazu mehr als legitim. So hoffe ich, trotz eines gewissen erwartbaren Stöhnens, „schon wieder Euro“, auf wackere Weiterleser, die sich der zermürbenden Komplexitätsschlacht dieses Themas unverdrossen stellen. Weil ihnen ein friedliches Europa das wert ist.

In diesen Tagen wird in Bezug auf den deutschen Beitrag zur Euro-Rettung immer wieder gerne mahnend angeführt, die Deutschen sollen doch bitte in der heute zugedachten Rolle ihre eigene Geschichte nicht vergessen. Sie mögen sich der Geburtshilfen des deutschen Wirtschaftswunders bewusst sein. Namentlich an den Marshallplan wird hier gerne erinnert. Tatsächlich eine nicht so abwegige Parallele, ging es doch auch beim Marshallplan, eingedenk der verheerenden Folgen der Versailler Reparationen, nicht ganz unerheblich um Hilfen die Frieden sichern sollten. Und ich bin ziemlich überzeugt, dass in der Tat solcherlei Überlegungen im Handeln der verantwortlichen politischen Kräfte in Deutschland volksparteiübergreifend wirklich prägend sind.

Nun werden diese Ermahnungen zur Erinnerung an die empfangene Unterstützung fast ausnahmslos aufrechnend dargeboten, mit einem Unterton, der auf einen unausgeglichen Saldo weist. Die Deutschen mögen doch allerwenigstens das jetzt zur Rettung Europas beitragen, was man ihnen nach dem Krieg zukommen hat lassen. Als ein Beispiel unter vielen meint der griechische Schriftsteller Petros Markaris in der ZEIT, die Amerikaner hätten damals dafür „unermesslich viel Geld ausgegeben – als Hilfe nicht als Kredit. Sie hatten begriffen: Wenn man eine Weltmacht sein will, hat man auch einen Preis dafür zu zahlen. Die Deutschen wollen eine Führungsmacht in Europa sein, aber dafür den kleinstmöglichen Preis zahlen.“

Geschichtsvergessenheit und Geiz lautet also der Vorwurf. Und eben das ist dann doch einen zweiten Blick wert: Zunächst einmal darf man an dieser Stelle daran erinnern, dass der Marshallplan kein Hilfsprogramm ausschließlich für Deutschland war. European Recovery Program lautete der bezeichnende formelle Titel der Initiative. Von insgesamt knapp 14 Milliarden US-Dollar gingen dementsprechend zwischen 1948 und 1953 „nur“ 1,4 Milliarden nach West-Deutschland, für Großbritannien waren es etwa 3,4 Milliarden, für Frankreich 2,8 Milliarden und Griechenland wurde mit 0,7 Milliarden US-Dollar unterstützt – pro Kopf auf die Bevölkerung von 1950 gerechnet waren das für Deutschland 28 US-Dollar, für das Vereinigte Königreich 69 für Frankreich 67 und für Griechenland 92 US-Dollar.

Der Marshallplan hat in ganz Europa fraglos große Not gelindert, so auch in Deutschland. Trotz nebenbei handfester ökonomischer Interessen der USA eine humanitäre Großtat. Und unter dem Schatten der drohenden sowjetischen Expansion zudem glücklicherweise die bewusste Alimentierung für die Freiheit der westlichen Demokratien. Das alles unbenommen, eine ausnehmende Bevorzugung Deutschlands war es aber ganz gewiss nicht.

Die 14 Milliarden US-Dollar entsprechen heute einem Geldwert von rund 100 Milliarden US-Dollar, also rund knapp 80 Milliarden Euro. Die 1,4 Milliarden US-Dollar Hilfe für Deutschland aus dem Marshallplan sind in heutiger Kaufkraft demnach etwa 8 Milliarden Euro – verteilt über fünf Jahre für damals 50 Millionen Einwohner. Man merkt, dass damit nicht viel mehr als Hunger-Stillen in dem bis 1950 gezielt deindustrialisierten Land machbar war.

Schauen wir uns jetzt den Beitrag Deutschlands heute in den diversen Rettungsmaßnahmen angesichts der europäischen Staatsverschuldungskrise an. Über den Rettungsschirm (EFSF und noch ungehebeltem ESM), die Staatsanleihen-Aufkäufe der EZB und die unausgeglichenen Target-Salden haftet Deutschland derzeit mit 795 Milliarden Euro für die kriselnden Partner in der Europäischen Union [siehe Haftungspegel des Ifo-Instituts hier vom 18.9.12]. Neben der im ESM enthaltenen Verpflichtung zur Bareinlagen von 22 Milliarden ist auch das Bürgen an sich selbstredend nicht umsonst. Je höher die Haftungssumme und je größer die Gefahr, dass der Bürge wirklich in Anspruch genommen wird, umso mehr schlägt die Bürgschaft bei der Refinanzierung der eigenen, beleibe auch nicht unerheblichen, Staatsschulden zu Buche. Derzeit zahlen wir ausnehmend niedrige Zinsen für unsere zwei Billionen Euro Staatsverschuldung. Eine absehbare Erhöhung der Kreditzinsen um nur einen Prozentpunkt beschert allein dem Bund Mehrkosten von jährlich 10 Milliarden Euro [siehe Bund der Steuerzahler].
Ganz zu schweigen davon, dass in der gegebenen Situation der GIPS-Staaten über dem Bürgen wahrlich das Damoklesschwert der Haftung schwebt, sprich die gesamte Summe im Feuer steht.
15,2 Milliarden Euro bilaterale Kredite hat Deutschland schließlich bisher direkt an Griechenland vergeben – Kredite und nicht Geschenke, um die akute Pflichtvergessenheit der korrupten griechischen Bürokratie nicht noch weiter zu befördern, und nicht weil irgendwer daran glaubt, dass das jemals zurückerstattet wird.

Will man also unbedingt in die Mottenkiste der geschichtlichen Vergleiche greifen, so ist – wenn man sich etwas Bedenkzeit jenseits billigem Schlagwortespuckens nimmt – schlicht festzustellen, dass sich das Hilfsengagement des kleinen Deutschlands in Europa heute keinesfalls zu verstecken braucht hinter dem Marshallplan der großen USA seinerzeit.

Viel wichtiger aber: Was sich beim genaueren Blick dahinter zeigt, ist eben nicht Geschichtsvergessenheit und Geiz, sondern ganz im Gegenteil ein ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein und eine quasi europäische Empathie. Bei allem äußerst berechtigtem Disput über die richtigen Maßnahmen zum langfristigen Erhalt eines friedlichen und prosperierenden europäischen Kontinents, Deutschland strengt sich mächtig an, jetzt das Richtige für Europa zu tun.

Vielleicht gelingt es Deutschland – Politik wie Bürgerschaft – nicht den zielführenden Rettungsweg einzuschlagen. Dann liegt das an den gigantischen Hebeln der Eskalation, die sich auf dem Pfad der zugespitzten Situation schon mit kleinen Fehltritten auslösen lassen. Aber nicht daran, dass man sich angesichts der Fußangeln gescheut hätte, sich auf den Weg zu machen.

Regelmäßig beklage ich an dieser Stelle Absurdes, Aberwitz und Unvernunft unseres Alltags. Das politische Bestreben zur Rettung der Europäischen Union und das bürgerschaftlich immer breiter werdenden Engagement dafür lässt sich aber – durchaus etwas unerwartet – da nicht einordnen. Tatsächlich greifen Vernunft und Moral zumindest in dieser Angelegenheit um sich. Schon lange nicht mehr wurde sich über eine gesellschaftliche Wegscheide so bewusst und so intensiv auseinandergesetzt. Wie gesagt mit mehreren diametralen Positionen, aber jedenfalls mit zukunftsträchtigem Verve. Das Absurde beschränkt sich hier auf die unvermeidbar Dummen, die unverbesserlichen Opportunisten und die unbelehrbaren Nationalisten. Derentwegen bedurfte es dieser Klarstellung, den anderen möge es als weiterer Baustein ihrer Befasstheit dienen.


Ein mieser Ruf

Juli 2012 – Die virtuelle Verdienstleistung unseres Daseins schreitet voran. Selbst einen Jux lässt man sich heute digital machen und ist freilich deswegen längst nicht davor gefeit, dass es doch nur ein schlechter Scherz wird. Websites wie marcophono.de automatisieren den Telefonstreich. An und für sich sowieso schon immer ein grenzwertiges Genre der Witzigkeit, in der vorgestanzten Banalität der digitalen Ausprägung aber tatsächlich eher geistige Körperverletzung.

Mit ein, zwei Klicks ein Anrufszenario ausgewählt, eine beliebige Telefonnummer und bei Bedarf der Name dazu eingegeben und schon blamiert sich der Angerufenen im Streit mit dem Sprachcomputer: weil er sich mit der Verspätung einer natürlich nicht bestellten Pizza auseinandersetzen muss oder, als geschmackloses Glanzlicht des Repertoires, weil ihm ein radebrechender Abdullah den Bau einer Moschee in der Nachbarschaft ankündigt und reichlich mehr vermeintlich witzige Anfechtungen.

Der Scherzbold kann dem Ganzen online zuhören und, wenn er will, das Gespräch auch mitschneiden (YouTube mit „marcophono“ durchsucht offenbart zum Beispiel 2.130 Treffer von entsprechenden Aufnahmen). In der Grundversion ist dieser Web„dienst“ zudem werbefinanziert kostenlos, was die unbegrenzte Potenzierung der Hirnlosigkeit befördert. Wie ahnte nicht schon 1993 der westfälische Philosoph Kerkeling: Witzischkeit kennt keine Grenzen, Witzischkeit kennt kein Pardon.


Paradise Regained

Juli 2012 – Über dem großen Teich versinkt der gesunde Menschenverstand. An dem zum Eisberg erstarrten Sorbet von christlichem Fundamentalismus und staatlicher Förderung kommt die Titanic der Vernunft nicht unbeschadet vorbei. Was fatal enden kann, weil die Vernunft, anders als vermutet, vielleicht doch nicht unsinkbar ist.

Der US-Bundesstaat Louisiana fordert seit 2008 im Louisiana Science Education Act seine Lehrer auf, ihre Schüler zur „kritischen“ Haltung unter anderem gegenüber der Darwinschen Evolutionstheorie zu erziehen. Unter dem Deckmantel wissenschaftlicher Denkfreiheit werden die Schulbehörden aufgefordert „to assist teachers, principals, and other school administrators to create and foster an environment within public elementary and secondary schools that promotes critical thinking skills, logical analysis, and open and objective discussion of scientific theories […] including, but not limited to, evolution, the origins of life, global warming, and human cloning“. (Am Rande: sehr bezeichnend, dass menschliches Klonen hier zur wissenschaftlichen Theorie befördert wird.)

Das treibt erwartungsgemäß inzwischen Blüten. Staatlich geförderte private christliche Schulen verwenden in Louisiana ein Biologiebuch, in dem sich die Evolutionstheorie mit der unglaublichen Leichtigkeit des Glaubens selbst aushebelt: Weil es Nessie, ja richtig das Ungeheuer im schottischen Loch Ness, gibt und selbe fraglos einen Plesiosaurier verkörpert, ist Darwin widerlegt, denn nach dem könnten ja Menschen und Saurier nicht gleichzeitig auf der Erde wandeln. Unfassbar, aber genauso steht’s geschrieben:
„Are dinosaurs alive today? Scientists are becoming more convinced of their existence. Have you heard of the 'Loch Ness Monster' in Scotland? 'Nessie' for short has been recorded on sonar from a small submarine, described by eyewitnesses, and photographed by others. Nessie appears to be a plesiosaur.“ („Biology 1099“, Accelerated Christian Education 1995)
Und, naja, ein schwimmfähiger Saurier könnte ja leicht die Sintflut überlebt haben, auch wenn er Noahs Arche verpasst hat. Ergo alles Leben auf der Erde wurde, wie’s in der Bibel steht, in sechs Tagen vor rund 6.000 Jahren erschaffen. Quod erat demonstrandum.

Die Vererbungslehre der Evolutionstheorie kommt übrigens in diesem Schulbuch gar nicht vor, dafür so manch andere abstruse Idee . Für Tausende von Kinder zahlt der Bundesstaat Louisiana das Schulgeld, damit sie durch Schulen gehen dürfen, die ganz gezielt nach und nach Wissen durch Glauben ersetzen. Noch konzentriert sich diese Gegenaufklärungen auf Amerika, aber was ist uns nicht schon alles über den großen Teich geschwappt.


Nö. - Nicht sehr viel. - Wir versuchen es.

Juli 2012 – Einmal abgesehen von der Frage, ob es in einer verantwortungsvollen Position wirklich angemessen ist, als Vater eine dreimonatige Babypause einzulegen – es ist ja nicht so, dass man nicht auch ohne Auszeit an der Erziehung seines Nachwuchses teilhaben könnte – dies also einmal hintan gestellt, möchte man im Falle Sigmar Gabriels aber schon noch einmal nachhaken, wenn er doch gleich wieder Pause von der Pause macht, um zwischen „Mariechen ist abgefüttert“ und „Mariechen hat Hunger“ die Komplexität des politischen Diskurses volksnah inszeniert auf getwitterte, notgedrungen (oder glücklicherweise?) argumentationsfreie 140-Zeichen-Stellungsnahmchen zu reduzieren.


Krankes System

Juni 2012 – Deutsche Regierungsbeamte melden sich 16 Tage im Jahr krank – so viel wie sonst nirgendwo in der OECD (Government at a Glance 2011). Deutsche Unternehmer sind nur knapp sieben Tage im Jahr nicht auf ihrem Posten (BKK Gesundheitsreport 2011). Geldausgeben ist offensichtlich deutlich kräftezehrender als Geldverdienen.


Kinderarbeit

Juni 2012 – Ein paar wirklich einfache Gedanken zum Betreuungsgeld:
Wenn der gegebene und künftige Staatshaushalt (trotz sprudelnder Steuereinnahmen) eine Neuverschuldung vorsieht, dann lassen sich weitere, zusätzliche Ausgaben unweigerlich auch nur mit neuen Schulden finanzieren. Die Einführung des Betreuungsgeldes bedeutet also unmittelbar Neuverschuldung.
Schulden, zumal Staatsschulden, das lässt man gerne abstrakt klingen; so als müssten sich daraus nicht irgendwelche Wirklichkeiten ergeben. Jede Schuld ist man aber jemandem schuldig. Jede Schuld ist das Eingehen einer Verpflichtung zu einer Gegenleistung (bei den Staatsschulden also zum Beispiel gegenüber Lebensversicherungen, die Staatsanleihen gekauft haben, um durch die Verzinsung dieser Anlage ihren Kunden eine private Altersvorsorge zu gewährleisten).
Je nach Laufzeit bis zur vollständigen Tilgung können bei langen Fristen Schulden an sich schon eine Übertragung dieser Leistungsverpflichtung auf künftige Generationen sein. Wenn zwei Generationen Jahr für Jahr immer nur mehr Schulden machen, ist das garantiert so. Heutige Neuverschuldungen sind also garantierte Leistungsverpflichtungen der heranwachsenden und künftigen Generationen.
Die Lasten des Betreuungsgeldes werden so sehenden Auges unseren Kindern und Kindeskindern aufgehalst. Und zwar ausschließlich. Heute muss da keiner einen Finger dafür krumm machen. Mit dem Betreuungsgeld zwingt der Staat die Kinder ihre Mütter für ihr Muttersein zu bezahlen. Alle. Alternativlos. Ohne Not.


Mist gemacht

Juni 2012 – Duft-Müllbeutel und Abfalltonnen-Deo, umso mehr Dreck wir uns in hemmungsloser Discounter-Völlerei nach Hause karren und mehr und mehr davon gerade einmal angebissen in die Tonne hauen, umso weniger wollen wir von der Dreckigkeit dieses Drecks belästigt werden. Knapp sieben Millionen Tonnen Lebensmittel befördern die deutschen Haushalte jährlich in den Müll. Nur die Haushalte – mit Handel, Industrie und Großverbrauchern summiert es sich auf 11 Millionen Tonnen. Der erheblich größere Teil davon wohl vermeidbar. (Quelle: Instituts für Siedlungswasserbau, Wassergüte- und Abfallwirtschaft der Universität Stuttgart, 2012) Das stinkt tatsächlich gewaltig zum Himmel.


Kaum zum Aushalten

Juni 2012 – Interview der Wirtschaftswoche mit Michele Marsching, Vorsitzender der PIRATENPARTEI in Nordrhein-Westfalen
Wirtschaftswoche: „Das war jetzt ein liberaler, ein sozialer Punkt. Haben wir damit die großen Linien der Piraten?“
Marsching: „Mmh, nein, also ich habe mir extra noch mal das Programm durchgelesen, aber jetzt habe ich wohl ein Blackout. Es fällt mir nicht mehr ein.“

Angesichts der Piraten wäre Max Webers berühmtes Diktum über die Eigenart der Politik wohl etwas anders ausgefallen: Politik bedeutet das beharrliche Glotzen von Löchern in der dicken Luft des extrarealen Lebensraums.

An gewisse demokratische Toleranzgrenzen stößt die Duldung solcher Inhaltslosigkeit, wenn jene sich die Erzeugung ihrer Luftlochschlösser nicht nur künftig durch ein bedingungsloses Grundeinkommen alimentieren lassen wollen, sondern es sich bereits jetzt erschleichen: Der politische Geschäftsführer im Bundesvorstand der Piratenpartei, Johannes Ponader, lebt als selbsternannter freiberuflicher Gesellschaftskünstler von Hartz IV, während er sich als hauptamtlich ehrenamtlicher Spitzenfunktionär verausgabt; seine „berufliche“ Situation erlaube mehr als eine 40-Stunden-Woche für die Partei, brüstete sich Ponader laut WELT schon bei seiner Bewerbungsrede. Da hilft es auch nicht, dass er sein Schmarotzertum mit dem alten Spießumdreh-Trick zu verschleiern sucht und die amtliche Kritik an seinem Verhalten „eine extreme Entartung des ganzen Systems“ nennt. Es bleibt doch mitfüßentretender Hohn gegenüber allen, die bei nicht minder großem bürgerlichem, sozialem und kulturellem Engagement tagsüber noch die Steuern für den Unterhalt von Herrn Ponader erarbeiten (nach seinem eigenen Getwittere derzeit monatlich circa 1.000 Euro Arbeitslosengeld II einschließlich Wohngeld).


Himmelsbotenstoffe

April 2012 – Schon mal was von Engelspray gehört? Nein, nicht der Duft der Frauen provoziert, dass einem drei Engel für Charlie wie nichts auf den Schoß fallen. Und, nein, auch nicht in Gelb als Reifenpannenspray vom ADAC. Engelspray ist Raumspray für die höheren Dimensionen der Sinneswahrnehmung. Quasi Zimmerdeo gegen übel transpirierende Aura. Für das AEJP VABBA Raumspray aus dem „Essenzenladen“ zum Beispiel haben 17 Lichtarbeiter durch ein Channelmedium außerirdische Energie in Wasser, Brandwein, Rosenwasser und Grapefruitextrakt transferiert, so dass sich 50 Milliliter davon für 20,37 Euro zuzüglich Versandkosten verkaufen lassen. Die rechtlichen Hinweise gilt es freilich auch zu zitieren: „Alle Aura-Essenzen basieren auf dem Schwingungsprinzip und haben keine wissenschaftlich nachgewiesene Wirkung. Wir beschreiben ausschließlich feinstoffliche Energien und treffen keine Aussagen über die Wirkung der Essenzen.“ Blaming the victim: Wenn’s nicht hilft, haben Sie wohl nicht genug daran geglaubt; außerdem haben wir Ihnen ja nie was versprochen.


G-Hilfe

April 2012 – Endlich ist er entdeckt, der sagenumwobene G-Punkt. Der vorgeblich erotische An-Schalter der Frau. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt, dass just der G-Punkt-Finder auch gleich dessen künstliche Vergrößerung im seinem schönheitsoperativen Repertoire hat. Kommt aus den USA, wird aber auch in Deutschland bereits zahlreich angeboten. Das ist allerdings nur die Spitze des Eisbergs der aktuellen Trends zur Manipulation des Faktischen auch im Intimbereich. Darunter tummelt sich inzwischen allerhand: Vaginalstraffung, Schamlippen oder Klitoris verkleinern, Venushügelfett absaugen und Anal bleaching (Hautaufhellung des Anus). Übrigens bei den Männern liegt auf Platz sieben der beliebtesten schönheitschirurgischen Eingriffe die Penisvergrößerung. Porn to be alive.


Schmerztherapie

April 2012 – Der renommierte Neurobiologe Gerald Hüther weist in einem „Zwischenruf“ für das Denkwerk Zukunft [Link] darauf hin, dass es der Hirnforschung gelungen ist nachzuweisen, dass soziale Kränkungen die gleichen neuronalen Netze aktivieren, wie körperlicher Schmerz. Eine Erkenntnis, die sich, vielleicht nicht so krass, aber doch mit der menschlichen Alltagserfahrung deckt: In beiden Fällen muss man ab einer gewissen Intensität die Zähne zusammenbeißen, wenn man nicht schreien will. So weit, so nachvollziehbar. Dann gleitet Hüther ab ins Hypothetische, wenn er ausführt, dass eben jenes soziale Zähne-Zusammenbeißen dick und krank macht. Er unterstellt, dass eine herrschende „chronische“ Unterdrückung solch sozialer Schmerzen aus den Anfechtungen unseres vorgeblich ach so strapazierenden Gemeinwesens die sonstige Schmerzsignalgebung übertüncht, worauf das Körpergefühl verloren geht. Die Wirkung mag wohl richtig sein, nur die Ursache erscheint mir arg tendenziös vereinfacht.

Zum einen setzt Hüther geflissentlich die „Lebensbeschleunigungs-These“ voraus, also die zunehmende Überforderung allein aus der Bewältigung eines angeblich immer schnelllebigeren Alltags. Wie ich schon des Öfteren ausgeführt habe, eine zu Zeiten historisch und global einzigartigen Wohlstandes und ebenso außerordentlich geringer Arbeitsbelastung sehr gewagte These. Zum anderen lässt der dargestellte Zusammenhang ja per se zwei ursächliche Schlüsse zu: mehr Unterdrückung sozialer Schmerzen oder die Abnahme der Fähigkeit mit den gegebenen sozialen Anfechtungen leidlich zurechtzukommen. Dass wir also nicht mehr die Zähne zusammenbeißen müssen, sondern dass wir nicht mehr so gut Zahne-Zusammenbeißen können (wollen). Diese zweite Option verschweigt Hüther; sie erscheint mir aber angesichts des gegebenen Lebensumfelds im Deutschland des 21. Jahrhunderts erheblich plausibler.

Was mich, bei allem Respekt, an solchen Hypothesen besonders ärgert, ist, dass damit einmal mehr die Menschen von der eigenen Verantwortung für ihr Wohlbefinden entbunden werden: Du allein kannst nichts dafür, die Gesellschaft ist es, das Leben an sich ist schuld. Nicht dein unverantwortliches Verhalten macht dich dick und krank, sondern das schlimme soziale Beziehungsgeflecht, in das du unschuldig hineingeboren wurdest. Die „Verbesserung unserer Beziehungskultur“ fordert Hüther kryptisch und verschweigt, wer der alleinige Träger von Kultur ist: jeder Einzelne. Dabei würde sich die Kultur schon ganz erheblich verbessern, wenn man wieder aufhören würde loszuplärren, allein weil man scheinbar schief angesehen wurde.


Orientierungshilfe

März 2012 – Ein Vortragsessay über richtige und wichtige Einstellungen in Schule, Ausbildung und Beruf: Das Leben ist kein Facebook-Spiel
pdf-Download Das Leben ist kein Facebook-Spiel_Mrz-2012_Gerd Maas.pdf


Monkey Island VI

März 2012 – Das Selbstverständnis von Torge Schmidt, Spitzenkandidat der PIRATEN für die Landtagswahl in Schleswig-Holstein: „Ich bin Gamer und spiele hauptsächlich RPGs [Anm.: Role Playing Games] und Strategiespiele.“ (FAZ, 28.3.2012). Vielleicht sollte Herr Schmidt sich lieber in World of Warcraft zum König ausrufen lassen. Ums Kieler Parlament kümmern sich derweilen gerne Käpt’n Blaubär und Hein Blöd.


Utopia 2.0

März 2012 – Für einen materiellen Wachstumsskeptiker wie mich ein verlockender Buchtitel: Gemeinwohl-Ökonomie (erweiterte Neuausgabe, Wien 2012). Gemeinwohl-Ökonomie, so beschreibt der Autor und Begriffspräger Christian Felber – romanischer Philologe und laut Klappentext freier Tänzer – aber tatsächlich einen Albtraum aller Verfechter einer offenen Gesellschaft. Als Gemeinwohl-Ökonomie entwickelt er ein neues Utopia und ersetzt Thomas Morus’ patriarchalische Herrschaft durch eine Gutmenschen-Volksdiktatur. Wie Morus baut auch Felber sein ganzes Wohlfahrts-Kartenhaus auf dem schmalen Grat seiner Überzeugung, der Mensch wäre hilfreich und gut – nicht auch, sondern ausschließlich. Er baut seine Traumwelt darauf, dass der Mensch, wenn man ihm es nur nett genug beibrächte, sich allein an „Vertrauensbildung, Ehrlichkeit, Wertschätzung, Respekt, Zuhören, Empathie, Kooperation, gegenseitigem Helfen und Teilen“ orientieren würde. Keine Frage, das sind tragende Werte unserer Zivilisation, aber eben nur die eine von zwei Seiten unseres evolutionären Erfolgsprogramms. Die andere Seite unserer Natur entspringt dem Kampf um Nahrung, Fortpflanzung und Status und treibt uns zum Wettbewerb, reizt den Ehrgeiz, verlangt uns Zähigkeit, Entbehrung und Leistung ab, erfüllt uns mit Stolz und zwingt uns aus Verantwortung für die Familie, für die Gemeinde, für die Zukunft auch unbillige Härten gegen die Mitmenschen ab. – In uns herrschen Antigone und Kreon, und selbst Antigone wird von Sophokles nicht ohne Stolz gezeichnet. – Von der dritten, der dunklen Seite des Menschen, Hass, Eifersucht, Zorn, Triebhaftigkeit, Gier et cetera, ganz zu schweigen.

Und so hofft Felber vergebens auf eine schöne neue Welt, würde man die Bürger nur selbst über die Wirtschafts-, die Bildungs-, die Daseinsvorsorge- und die Medien-Ordnung und die Verfassung der Demokratie entscheiden lassen und noch mit Gesetzesinitiativ- und –verhinderungskraft ausstatten. Da hat er sich die falschen Menschen ausgesucht, um mit solchen Kommunarden-Methoden zum perfekten Gemeinwesen des absoluten gegenseitigen Vertrauens zu gelangen: „Stellen Sie sich eine Gesellschaft vor, in der Sie jedem Menschen vollkommen vertrauen können: Wäre das nicht die Gesellschaft mit der höchsten Lebensqualität?“ – Tatsächlich wäre das das real existierende Grauen. Zum einen weil ich schon genügend Menschen kennengelernt habe, denen ich nie im Leben vertrauen können will, und zum anderen, weil diese Vorstellung nur in vollkommener Unfreiheit als das entmenschlichte System einer absolutistischen Technokratie verwirklicht werden könnte. Verordnete Massenvertrautheit.

Alle weiteren Facetten der Gemeinwohl-Ökonomie kann man sich dann getrost sparen. Sie beruhen alle unmittelbar auf dem unmöglichen Gutmenschen-Axiom. So belegen auch die paar realen Beispiele die Felber aufführt, dass sich neue, nachhaltigere Ansätze des Wirtschaftens auch in der Marktwirtschaft verwirklichen lassen und sie machen die wirkliche Herausforderung deutlich: nicht Wettbewerb und Gewinnstreben abschaffen, sondern das Ziel und die Art der Rendite neu definieren.


Napfkuchen

Februar 2012 – Nachtrag zum letzten November: 40 Hundebäckereien sind es inzwischen allein in Bayern. Wem das zu profan ist, bestellt bei der Hundekonditorei: Leberwurst-Croissants, Seelachs-Trüffel, Lachs-Spinat-Krokant, Karotten-Kokos-Makronen, Käsetraum-Lollis, handgemacht, 100% Natur. Und nicht vergessen, Ostern steht vor der Tür, da dürfen Herrchen und Frauchen ganz besonders einen am Keks haben: Rindfleisch-, Käse- oder Leberwurst-Häschen, Hundeschokoladenhase oder schlicht Pralinen – vier Stück (70g) im Holzkistchen zu 8,90 Euro. Das Leben ist ein Leckerlie.


Wetten dass..?

Februar 2012 – Der weltweite Gesamtwert von Derivaten übersteigt das globale Bruttoinlandsprodukt um sage und schreibe das Zehnfache. Unter dem Begriff Derivate sind alle Finanzprodukte zusammengefasst, die Wetten auf die Zukunft beinhalten (Futures, Optionen, Swaps). Derivate schaffen keine Investitionen, sie verlagern ausschließlich Risiken – risikofreudige Marktteilnehmer greifen risikoscheuen unter die Arme. Eliminiert werden die Risiken dadurch natürlich nicht, sondern es sind Nullsummenspiele: das was einer gewinnt, verliert ein anderer. Es wird nichts geschaffen, es geht nur darum Geld von vielen Dümmeren zu wenigen Cleveren zu schaufeln. Die mehrwertlosen Geschäfte boomen: 1998 betrug der Nominalwert aller Derivate weltweit noch 81 Billionen US-Dollar, 2010 waren es 605 Billionen US-Dollar. Offensichtlich finden sich immer mehr Dümmere.

Jetzt braucht man nur noch zu schauen, wer laufend viel Geld verliert beziehungsweise viele Schulden macht oder ständig neues Geld druckt, um zu wissen , wo diese Dümmeren zu suchen sind, beziehungsweise wo die gigantische Pumpe steckt, die ohne zu investieren, ohne mehr schaffen zu wollen, Geld in die Märkte bläst, das sich Anlagen sucht. Es sind sich stetig höher verschuldende Staaten und renditegeile Finanzmarktakteure. Letztere können sich entweder mit der too-big-to-fail-Garantie oder wegen erschreckend minimaler Eigenkapitalquoten schamlos gerieren. Die Risiken, bewertet in Inflation und Steuern, tragen in beiden Fällen diejenigen, die leisten, schaffen, ihr Risiko selber tragen und dafür haften: steuerpflichtige Arbeitnehmer, Selbständige und der überwiegende Teil der Unternehmer.

In der herrschenden Verfassung der Finanzmärkte haben sich für die demokratiebasierte Marktwirtschaft konstitutive Wirkzusammenhänge entkoppelt: Eigentum und Verantwortung, Risiko und Haftung, Leistung und Verdienst. Dementsprechend ist es kein Problem des Systems Marktwirtschaft oder des System Kapitalismus – daher schüttet etwa auch die Occupy-Bewegung das Kind mit dem Bade aus. Jedes System, das die Maßlosigkeit Einzelner nicht zu unterbinden weiß, muss scheitern – und aus unseren bisherigen historischen Erfahrungen erlagen die totalitäreren, wirtschaftlich lenkungsorientierten Systeme wie Merkantilismus oder Sozialismus dieser Gefahr noch viel leichter.

Es ist das also sicher keine Systemfrage, sondern vielmehr eine Frage der Moral. Und dabei auch nicht das Infragestellen des herrschenden Wertesystems, sondern das Problem der Durchsetzung der allgemein anerkannten gesellschaftstragenden Ethik bei jedem Einzelnen. Der Einsatz der demokratischen Kräfte für das Primat von Verantwortung, Haftung und Leistungsgerechtigkeit.

Da darf man den Regierenden bisher durchaus Kleinmut vorwerfen. Der Interventionismus wird in Details exzessiv zelebriert, siehe Frauenquote oder Glühbirnenverbot, während mit dem Kampf gegen den demokratiegefährdenden Kasinokapitalismus kaum einer sein Schicksal verknüpfen möchte. Da wäre noch reichlich Luft für Empörung im Rat der Europäischen Union
oder bei den G-20.

Wir dürfen aber auch die Bedeutung des gesamtgesellschaftlichen Über-die-Verhältnisse-Lebens als maßloses Vorbild und inflationären Treibstoff der überbordenden Finanzmärkte nicht aus den Augen verlieren. Ohne die enorme Pumpe der angehäuften Staatsverschuldungen – in der EU Stand 2010 zehn Billionen Euro, in den USA Anfang 2012 11 Billionen Euro und ebenfalls 10 Billionen Euro in Japan, all together: 31.000.000.000.000.000 € – wäre wenigstens das Eskalationstempo ein anderes und wahrscheinlich auch die Hebelwirkung der Finanzmärkte auf das richtige Leben geringer. Diese Bindung zur Realität bleibt aber immer: Man kann nur befristet mehr ausgeben und jonglieren als man geschafft hat. Am Ende der Frist muss man endlich mehr schaffen oder zugrunde gehen.


Und die Mutter blicket stumm

Februar 2012 – „Mit dem iPhone hätte Phillip nicht gezappelt“ titelte die Welt HD unlängst und stellte dabei sämtliche Kausalitäten auf den Kopf. Die verwegene These: „Wenn Kinder keine Ruhe geben, lohnt es sich für Erwachsene, den Kleinen ihr iPhone zum Spielen zu überlassen. Denn schon Eineinhalbjährige spielen gern mit einem Smartphone.“ Tatsächlich reden wir von der Mobilisierung der bildschirmmedialen Verblödung, die stationär schon schwer im Verdacht steht eben jenes Zappeln zu befördern, in ihrer elektronischen Zweidimensionalität aber in jedem Fall die frühkindliche Erfahrungswelt extrem verarmt. Apps kann Kind nicht hinterschauen, nicht riechen, nicht schmecken, nicht anfassen, nicht ablutschen, daran nichts verändern oder darin sonst einen Einfluss jenseits stupider, vorgedachter Computerspielmuster nehmen. Selbst nölende Langeweile ist lebensspannender. Aber anstrengender für die Eltern. Und genau daher weht der Wind der Inflation mehr oder weniger pädagogisch wertvoller Kinderruhigstellungsapplikationen. Es ist die Verweigerung einer biologischen Selbstverständlichkeit, sich Zeit für den fordernden Nachwuchs zu nehmen. Schauen wir auf ein offenbarendes Beispiel aus dem Welt HD-Artikel:

„Für Amber Mullaney ist das iPhone ein Gottesgeschenk. Wenn die Amerikanerin mit ihrem Ehemann und der zweijährigen Tochter in ein Restaurant geht, bekommt die kleine Tatum das Smartphone und darf sich Folgen der Zeichentrickserie ‚Dora the Explorer‘ anschauen. Versuche, das Handy zu Hause zu lassen, endeten in der Vergangenheit im Chaos: Tatum spielte mit den Salzstreuern herum, Gläser fielen um. ‚Sie malt ein bisschen oder redet ein bisschen mit uns, aber das ist nur von kurzer Dauer‘, sagt Mullaney. Mit dem iPhone sitzt Tatum dagegen ruhig auf ihrem Stuhl, während ihre Eltern in Ruhe ihr Essen genießen können. Ein schlechtes Gewissen hat die Mutter manchmal schon. Die Leute sollen nicht denken, sie nutze das Gerät, um ihr Kind zum Schweigen zu bringen. Aber sie will auch nicht auf Restaurantbesuche verzichten. ‚Manchmal muss man tun, was man tun muss‘, sagt sie.“

Vor kurzem hab ich so ein armes Ding selbst erlebt. Eine, sagen wir mal, Dreijährige, die geschlagene zwei Stunden mit roten Backen aber ansonsten vollkommen apathisch ins iPhone ihres Papas glotze, während der mit Mama und einem befreundeten Pärchen im Caféhaus ausgiebig frühstückte. Ein hübsches, offenes Kind, fröhliche, dem Anschein nach geistreiche Eltern und Freunde – umso surrealer das Bild der unbeschwert schwatzenden Erwachsenenrunde um das bewegungslos, mit gerade am Körper runterhängenden Armen auf den kleinen Bildschirm konditionierte Mädchen; außer wenigen, ernsten Zwischenfragen an den Vater, die ihn zu kurzen, lächelnden Kommentaren nötigten, schweigend.

Fisher Price von Mattel nimmt den weiteren Trend schon vorweg und brachte September 2011 ihren Babyhalter für das iPhone oder den iPod touch auch auf den deutschen Markt. Mit bunten Ringen, Rasseln und bei Bedarf vorgeblich babygerechten Apps – Zielgruppe: ab sechs Monate.



Echt gaga.

Die sich ausdifferenzierende elektromediale Ruhigstellungspraxis gemahnt immer mehr an die pädagogischen Utopien eines John B. Watson, dem Begründer des Behaviorismus, der in den Zwanzigerjahren von der Kinderaufzucht in Babyfarmen fern von familiären Beziehungen und dem realen Leben träumte. Ein tatsächlich unmenschliches, tödliches Milieu. Die aufmerksamkeitsfordernden Bildschirmmedien schließen die Kinder ebenso von der Wirklichkeit aus (auch wenn Ihnen – pädagogisch wertvoll – versucht wird, über die Medieninhalte wieder etwas Wirklichkeit zu vermitteln) und trennen sie von der zwischenmenschlichen Auseinandersetzung. Babyfarmen im Kopf.


Ausgelutscht

Januar 2012 – Wem jetzt das Lutschen eines Bonbons zu aufwendig erscheint, sprüht sich vorgeschnulltes Candy-Spray in den Mund. Ein paar Milliliter Soße aus Süßstoff, künstlichen Aromen und einigen E-Nummern im Plastikfläschchen mit Pumpzerstäuber. Alternativ auch Doppel-Candy-Spray, Candy-Schaum-Spray oder Light-up-Candy-Spray, das auf Knopfdruck im Dunkeln leuchtet. Das Leben ist halt kein Zuckerlecken.


Die Freiheit nehm' ich mir

Januar 2012 – Steinkühlerpause war gestern, heute ist Facebook. Jeder zehnte deutsche Arbeitnehmer ist länger als fünf Stunden pro Woche während der Arbeitszeit privat auf Facebook (Quelle: youCom GmbH, Hürth) – das macht rund 27 Arbeitstage im Jahr. Mal eben so den Urlaub verdoppelt. Ein Drittel facebookt ein bis zwei Stunden während der Arbeit, auch noch rund 8 Arbeitstage im Jahr. Das Verständnis einer Arbeitsethik als Selbstverpflichtung, weil man in seinem Beruf etwas zu schaffen beabsichtigt, schwindet offenbar. Oder sei es nur das profane Gefühl der Verpflichtung, eine Gegenleistung für den empfangenen Lohn schuldig zu sein.


Feierfreier Sonntag

Januar 2012 – Mit Urlaub und Feiertagen kommen die deutschen Arbeitnehmer auf durchschnittlich 40 bezahlte freie Tage. Für die einen ist das der längste Urlaub der Welt, für die anderen einfach selbstverständlich. So selbstverständlich, dass daran doch, bitte schön, ein banaler Kalender nicht einfach etwas ändern darf. Verfügt das Kalendarium eigenmächtig den Feiertag auf einen ohnehin arbeitsfreien Sonntag, müsste man ja an diesem Tag doppelt frei machen. Das kann nicht angehen, meint DIE LINKE, und fordert, die Hälfte des Freimachens, die an jenem Sonnfeiertag nicht untergebracht werden konnte, werktäglich nachholen zu dürfen. Zur Begründung zieht Sabine Zimmermann, die arbeitspolitische Sprecherin der Linkspartei im Bundestag, Artikel 140 des Grundgesetzes heran. Darin steht: „Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt.“ Ihr scheint dementsprechend nicht zumutbar, die sonntägliche seelische Erhebung mit den Anstrengungen eines Feiertages zu belasten.

In den weiteren Ausführungen lässt Zimmermann aber dann die wahren Beweggründe aus dem Sack. Sie missgönnt natürlich den Arbeitgebern den zusätzlichen Tag zur selbstredend unterstellten Ausbeutung ihrer Arbeitnehmer. „Frei nach Marx lässt sich also sagen: Die Geschichte der Feiertage ist eine Geschichte von Klassenkämpfen.“ Verfassungsschutz, übernehmen sie.


Schöne bunte Warenweltkulisse

Januar 2012 – Der ehrbare Kaufmann, jemand möge es mir bitte sagen, wo ist er geblieben? Der Kaufmann, der nicht vor lauter Gier dem eigenen Lug und Trug begeistert selber Glauben schenkt. Der Kaufmann, der stolz ist, und zu dessen Stolz es gehört, die hochgehaltene Moral nicht dem Profit zu opfern. Der Kaufmann, der sein Produkt um seiner Produktidee willen verkaufen mag, nicht weil er die Schachtel schön angemalt und wohlklingend beschriftet hat. Pfui Teufel, jedem Ehrhaften käme die Galle hoch, wenn er Mist in bunten Kistchen verscherbeln sollte.

Nun weiß ich wohl, wo die Anständigen zu suchen wären: in unzähligen mittelständischen Familienunternehmen zum Beispiel. Und keine Frage, gewissenlose Krämerseelen gab es schon immer. Nur heute scheinen sie als Großunternehmen und globale Konzerne Legion, und treten die Ethik des ehrbaren Kaufmanns mit Füßen.

Gerade hat die Verbraucherorganisation Foodwatch zum Beispiel Teekanne mit ihrem Beuteltee „Landlust“ aufs Korn genommen. „Genießen Sie einen kleinen Ausflug aufs Land und entdecken Sie den ursprünglichen Genuss vertrauter Früchte, die noch in Ruhe heranreifen können“, heißt es auf der Teekanne-Webpage, „nur natürliche Zutaten“ prangt auf der Verpackung. Bei der Sorte „Mirabelle & Birne“ ist dann aber nicht einmal Mirabelle drin, und auch kein natürliches Aroma und auch kein Mirabellen-Aroma, sondern nur „Aroma mit Mirabellen-Geschmack“. Und auch Birne ist in dem Beutel nur zu acht Prozent auffindbar. Sehr landlustig.
(www.abgespeist.de)

Beleibe kein Einzelfall: Über 4.500 Produktmeldungen sind inzwischen bei der Ende Juli 2011 von den Verbraucherzentralen gestarteten Internetplattform www.lebensmittelklarheit.de eingegangen. Hier findet sich etwa das „Pesto alla Genovese“ von Barilla, das typischerweise Pinienkerne und Olivenöl enthält. Tatsächlich verwendet Barilla in erster Linie billigeres Sonnenblumenöl (46,1 Prozent der ganzen Chose sind Sonnenblumenöl, nur ein Prozent sind wirklich Olivenöl, gerade einmal ein Tropfen) und Pinienkerne gibt’s gar nicht (stattdessen Cashewnüsse).

Schon gleich gar wird die Wahrheit kreativ gebeugt, was das Zeug hält, wenn der Gesetzgeber mehr oder weniger bewusst Lücken gelassen hat: Auf der Eierverpackung muss nicht das Herkunftsland der Eier stehen, sondern nur das Land, in denen sie verpackt wurden, Vollmilchschokolade braucht keine Vollmilch zu enthalten, schwarze Oliven können grüne gefärbt sein, aus aller Welt zusammengepanschter Honig darf auf dem Etikett mit der regionalen Adresse des Verpackers beworben werden, in Seelachs-Schnitzeln muss kein Lachs sein.

Aber was wäre das für eine Welt, in der man jeder erdenklichen Unmoral mit einer detaillierten gesetzlichen Regelung begegnen wollte? Das funktioniert nicht. Ein Gemeinwesen muss auf einer gewissen Selbstverständlichkeit moralischer Grundwerte fußen. Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit gehören da eigentlich dazu, zumindest das redliche Bemühen darum. Und auch ohne Gesetze lässt sich Unmoral gesellschaftlich sanktionieren:

Kaufen wir es den Heuchlern und Schönfärbern einfach nicht ab.


Gut bedient

November 2011 – Abiturienten lassen sich die Abschlussfeier komplett von professionellen Agenturen organisieren, Eltern blättern hunderte, wenn nicht gar tausende Euro für rückstandsfreie all-inclusive Kindergeburtstage hin, selbst Kommunion und Konfirmation sind schon massentauglich zu bedienbaren Events avanciert. Auch Geschenke muss man sich nicht mehr selber einfallen lassen, man lässt sich von den Vorschlagslisten der Onlineshop-Algorithmen leiten oder beauftragt hauptamtliche Geschenkideenhaber. Wer was erleben will, geht zur Erlebnisagentur und wählt unter zig „ausgefallenen“ Erlebnissen aus. Wer sich gesund halten will, lebt nicht einfach gesund, sondern geht zum Wellness. Wer ein Problem hat, sucht es nicht zu lösen, sondern trägt es von Therapeut zu Therapeut. Lebt ihr auch oder bucht ihr nur?


Backe, backe Hundekuchen

November 2011 – Der Hunde-Brunch ohne künstliche Konservierungs- und Aromastoffe, tierische Bioläden, die Hunde-Bäckerei – „Leckerlies direkt aus der Backstube“.



Ob man da sonntagmorgens auch frische Hundebrötchen bekommt? Der moderne dog life style baut jedenfalls fest auf Frische. Die über fünf Millionen Hundehalterhaushalte in Deutschland wissen offensichtlich nicht mehr wohin mit ihrem Geld und gehen immer öfter mit dem Bello auf ein Hundebier zur Hundewurst in den Hunde-Imbiss. Menschenfutter macht derweilen nur noch gut ein Zehntel des privaten Verbrauchs aus, in den Siebzigerjahren war es ein Viertel. Ein ganzes Hähnchen ist uns heute bratfertig tiefgekühlt gerade einmal zwei bis drei Euro wert (nebenbei: bei vollem Bewusstsein des gesunden Menschenverstandes, dass solche Preise nur mit vollautomatisierter Tierquälerei machbar sind). Endgültig pervers wird diese Schizophrenie des boomenden Bio-Frische-Hundefutter-Trends angesichts weltweit 925 Millionen Hungernden. Der Vergleich mag unlauter erscheinen, bei Hundemenüs wie „Rehwild mit Schupfnudeln, Zucchini und Marone & Thymian“, „Gans mit Kartoffel, Möhre und Erbsen & Kürbis“ oder „Kaninchen mit Kartoffel und Löwenzahn“ und „Känguru [nur] mit Kartoffel“ drängt sich einem, wenn man sich auch nur einmal kurz besinnt, der Vergleich mit den Hungerleidern dieser Welt unweigerlich auf. Oder dass ein Drittel der Weltbevölkerung mit meist nicht viel mehr als einem Napf Reis pro Tag auskommen muss.


Mit Haut ohne Haar

November 2011 – Beim EKG blickt die MTA erstaunt auf meine, wenn auch nicht viel, aber doch behaarte Brust, die sich dann auch erwartungsgemäß widerborstig gegen die Haftung der Elektroden sträubt; das hätte sie nun wirklich schon länger nicht mehr gehabt. Mit unrasiertem Oberkörper gehöre ich offenbar zu einer aussterbenden Rasse. Selbst im Intimbereich rasieren oder enthaaren sich immer mehr Männer – „ein glatt rasierter Unterleib ist bei Jugendlichen längst Mainstream“, so ein Sexualpädagoge von pro familia. 42 Prozent der männlichen Bravo-Leser rasieren sich regelmäßig die Schamhaare (berichtete die ZEIT schon 2009), rund die Hälfte der 18- bis 25-jährigen Männer meint die Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie des Universitätsklinikums Leipzig, die „Schamregion unterliegt fortan einem Gestaltungsimperativ“. Dass dann bei den Jungs auch die Achselhaare weg müssen, versteht sich – die österreichische Krone-Zeitung hat gefragt: 58 Prozent der unter 30-Jährigen waren es. Hygienische Begründungen gibt es für all das im Mitteleuropa des 21. Jahrhunderts natürlich nicht. Es geht allein um eitlen Schein. In diesem wachsenden männlichen Enthaarungsfetischismus changiert Schönheitsbewusstsein gefährlich in Richtung Narzissmus – die unverhältnismäßig hohe Selbstbeachtung. Die wachsende Konzentration auf sich selbst und da nur auf die Äußerlichkeiten. Der mythologische Narziss ertrank in seiner Selbstverliebtheit. Das deutsche Volksmärchen hat solcherlei zerstörerischen Selbstwahn dann vornehmlich aufs weibliche Geschlecht projiziert, „Spieglein, Spieglein an der Wand …“. Zu Unrecht wie sich heute zeigt.


Moralpredigt

November 2011 – Verantwortung ist der überragende Begriff in dem jüngst von der Deutschen Bischofskonferenz der katholischen Kirche herausgegebenen Leitbild für eine freiheitliche Ordnung Chancengerechte Gesellschaft (27. Juni 2011). Genauer sind es sogar vier Verantwortungen: Eigenverantwortung, die Verantwortung des Einzelnen für das Gemeinwesen, die Verantwortung des Gemeinwesens für den Einzelnen und die Verantwortung des Gemeinwesens für das Gemeinwesen; in eben dieser Reihenfolge. Grundlage allen gesellschaftlichen Daseins ist: „Jeder muss seine Begabungen und Potentiale zur Geltung bringen und sich immer wieder seiner Verantwortung für das eigene Leben stellen. Er steht in der Pflicht, die ihm gegebenen Möglichkeiten zu nutzen, bevor er Hilfe durch die Solidargemeinschaft in Anspruch nimmt.“ Wer Teil der Gesellschaft sein will kann sich als nächstes auch nicht seiner Verpflichtung für eben diese entziehen. Das reicht vom verantwortungsvollen Umgang mit den Mitmenschen im privaten wie im beruflichen Umfeld bis zur ausdrücklichen Mitverantwortung des Einzelnen für die Ordnung des Ganzen. Es ist bezeichnend, dass die Bischöfe diese beiden Dimensionen voran stellen, grenzen sie doch damit explizit die dritte Verantwortung, nämlich die gesellschaftliche Verantwortung gegenüber dem Einzelnen, klar ein. Selbstverständlich hat in einem humanen und zukunftsfähigen Gemeinwesen die institutionalisierte Gesellschaft, also „der Staat“, Verantwortung für seine Bürger, aber eben nicht als Befreier von der individuellen Verantwortung, sondern als Befähiger zur Eigenverantwortung. Ein freier Staat ersetzt nicht das Verantworten-Wollen, sondern fördert das Verantworten-Können. Und er schafft, das ist die vierte Dimension, Institutionen und Ordnungen, die das über Generationen und in einer nur begrenzt veränderbaren Schöpfung (Umwelt) sicherstellen.

Eine Gesellschaft lebt und überlebt nur aus der Verantwortung ihrer Mitglieder. In einer prähistorischen Jäger- und Sammlersippe leuchtet uns das spontan ein. Aber wer geht heute im stetigen Bewusstsein durchs Leben, dass er laufend den Fehltritt zu vermeiden sucht, der den Ast unter den Füßen knacken lässt, was die von der Jagdgemeischaft angeschlichene Beute in die Flucht treiben würde. Das Leben ist heute komplexer, das heißt aber nicht, dass dieses Verantwortungsmyzel heute weniger gilt. Ursache und Wirkung sind oft nicht mehr so leicht und klar ersichtlich, aber ganz genauso da. Wer seine Gesundheit riskiert, seine Talente nicht nutzt, seine Externalitäten nicht trägt, seine Schaffenskraft vergeudet, seinen Vorteil maximiert, der tut das unweigerlich immer zu Lasten seiner Mitmenschen. Das heißt nicht, dass man sich überall und immer die gesellschaftliche Bedeutung allen Handelns ganz konkret vor Augen halten muss. Sondern es heißt, dass man diese gemeinschaftliche Dimension des eigenen Wirkens nicht ständig ignorieren kann.

Umso weniger wir im Laufe der Geschichte aber alltäglich vitalen Anfechtungen ausgesetzt waren, umso weniger offenbar ist uns diese selbstverständliche Notwendigkeit von Verantwortung geworden. Heißt das, unser Dasein muss erst wieder lebensbedrohlich werden, damit wir uns auf unsere Menschlichkeit besinnen? Das steht zu fürchten. Die Ablenkungen der medialen Fantasien oder der erkauften Erlebnisse, die regulierten Erwerbswelten und die sanfte Wiege des fürsorglichen Staates kommen scheinbar ohne unsere Verantwortung aus. Scheinbar nur, weil eine Verantwortung eine nicht auflösbare Notwendigkeit ist. Wir bauen quasi einen Saldo nicht übernommener Verantwortlichkeiten auf. Verbindlichkeiten nennt man das gemeinhin. Schulden. Wir verschulden uns, wenn wir unseren notwendigen Verpflichtungen des Zusammenlebens nicht hinreichend nachkommen. Alles was wir hier und jetzt nicht tragen, muss andernorts und, oder später getragen werden.

Ein Hoch auf die deutschen Bischöfe, dass sie nicht einfach aufs Jenseits vertrösten, sondern so viel Erdung haben, dass sie die wachsende Verantwortungslosigkeit nicht hinnehmen wollen.


Schulschwänzer

Oktober 2011 – Gerade einmal vier Wochen nach den Sommerferien unternimmt das Kollegium eines Gymnasiums hier bei uns einen Personalausflug, um „etwas Abstand vom Alltag zu gewinnen“. Derselbe ist offenbar von einem arg unpersönlichen Nebeneinander statt Miteinander geprägt, denn der Ausflug soll auch einmal „der persönlichen Seite Raum geben“. Nun, solcherlei Begründungen könnte man leicht als etwas unglücklich ausgedrückt ad acta legen. Dass für diesen Spaß aber an der ganzen Schule die fünfte und sechste Stunde sowie der Nachmittagsunterricht entfallen, lenkt den Ärger dann doch auf derart fadenscheinige Rechtfertigungen: Sollen die Herr- und Damenschaften LehrerInnen doch bitte Ihren Abstand vom Alltag an 52 Wochenenden, in 14 Wochen Ferien oder an diversen zusätzlichen Feiertagen gewinnen und der persönlichen Seite vielleicht mit ein wenig mehr alltäglicher Zusammenarbeit Raum geben. Dem Ganzen die Krone setzt die Schulleiterin noch auf, wenn sie schreibt, dass sich die Schülerinnen und Schüler auf einen verkürzten Schultag freuen dürfen. Das ist dann so, wie wenn der Zahnarzt sagen würde, man könne sich freuen, es tue weniger weh, er bohre die Karies nur zur Hälfte raus.


Wenn zwei an einer Leine ziehen

Oktober 2011 – Der umgreifenden Ersatz von Kindern durch Haustiere wirkt sich inzwischen auch im Rechtswesen aus: einem geschiedenen Ehepartner bewilligte ein Gericht ein wöchentliches Umgangsrecht mit dem Hund, auf den man ehemals gemeinsam gekommen waren.


Heidi reloaded

Oktober 2011 – Bericht einer Selbstgeißelung: eine Folge Die Alm – Promischweiß und Edelweiß, Pro Siebens unsäglichem Verschnitt von Big Brother mit Living History und dschungelcampschen Pseudomutproben – ach ja und nicht zu vergessen die unübersehbare Anleihe bei den Scripted Realities der Doku-Soaps: Gespieltes so tun als ob es echt wäre – da schaut die Wirklichkeit nicht nur aus wie schlecht gespielt, sie ist es (bei den schauspielerischen Fähigkeiten von Kathy Kelly, Werner Lorant, diversen Castingshow-Sternchen und Call-in-Gewinnspiel-Moderatorinnen kein Wunder). Bei solcher Unbedeutendheit der Teilnehmer kommt in den zumeist über gerade Abwesende lästernden Dialogen eine Art zweitklassiges Goldenes-Blatt-Flair auf – quasi ein Schulungsvideo für Aspiranten einer großen Karriere als Dauergäste in Friseursalons, Nagelstudios und Therapiewartezimmern. Das ließe nun aber vermuten, dass man sich als Zuseher wenigstens an der Realsatire erheitern könnte: Hat man das Fremdschämen einmal verwunden, lässt sich über solch laufende Offenbarungen der gegebenen Dämlichkeit der Protagonisten ja tatsächlich amüsieren. In Wirklichkeit ist das ganze Format getränkt von gähnender Langeweile: Erörterungen der Tiefenreinheit von Handwäsche, des geeigneten Schuhwerks für unebene Dielenböden, warum man ein Kalb nicht melken kann, Tattoos, Schokoladensüchtigkeit, irritierte Haut, die almeigenen Sonnenterassen, Kaffeepeeling, Schönheitsschlaf, heruntergelassenen Unterhosen und natürlich das (oh Wunder, stets herrliche) Wetter. Unterbrochen allerdings von den sinnfälligen Anmerkungen des landhausmodenbewehrten Moderatorenpaars Janine Kunze und Daniel Aminati: „Ja so ein Hoden im Mund ist auch unangenehm.“ – „Ach komm so’n Hoden im Mund ist doch für dich nichts Neues.“

Besonders arg ist aber wirklich die durchsichtige Inszeniertheit des Ganzen. Da muss zum Beispiel auf Teufel komm raus eine alle Bemühungen der anderen, die Hühner zum Eierlegen in die Stall zu befördern, durchkreuzen, weil sie die Regie dazu auserkoren hat, der Meinung zu sein, man wolle ein Huhn zum Schlachten auswählen, wogegen sich die Feinsinnigkeit ihrer Tierliebe sträuben soll. Wobei von Anfang klar war, dass es um Eier und nicht um Ragout geht. Mit B-Movie-Thriller-Musikuntermalung und vielen Schnitten hetzen die Eierjäger schusselig den Hühnern hinterher (der Misthaufen darf dabei nicht fehlen) und sie kreuzt mit einer jeder Grundschul-Sommerfestaufführung Ehre machenden Choreografie „lauf, lauft“-rufend quer.
Oder was für ein Drama wurde da aufgeführt, als man eine gemeines Hausmäuschen dazu zwang so zu tun, als hätte es eine der Teilnehmerinnen in den Finger gebissen – sieht man allein die darauf folgenden minutenlangen Schreikrämpfe, meint man in eine Laieninszenierung von Scream geraten zu sein. Wirklich zu Schaden gekommen ist in dem Fall vermutlich jedoch nur das Trommelfell der Maus.
Von „Mut“proben wie durch Spinnenweben krabbeln, Wurstdärme aufblasen oder die besagten Stierhoden essen, will ich ganz schweigen.

Allerorts vermuten die Fernsehmacher heutzutage Realitätshunger bei den Zusehern, den wachsenden Wunsch nach Authentizität im Fernsehen und voyeuristischer Teilhabe daran. Die mediensüchtige Gesellschaft giert nach non-medialen Realitäten, die ihr daraufhin medial inszeniert werden. Das Verlangen nach real statt fiktional gebiert die Realfiktion – das mediengerecht (schlecht) nachgespielte Leben. Das Bild unseres Daseins verkommt zur kulturlosen Klischeehaftigkeit. Um sich von dieser Inszenierung dann wirklich befriedigen zu lassen, bedarf es schon einer nicht unerheblichen Schizophrenie.

Was Die Alm betrifft, waren es pro Sendung zwischen ein und zwei Millionen voyeuristische Schizos, die über zwei Wochen jeden Abend (ab 22.15 Uhr) dabei waren. Vielleicht nicht so sehr viele. Bloß möchte ich gar nicht wissen, was die anderen gut 20 Millionen Fernseher derweilen Abend für Abend geglotzt haben. Die hochnotpeinliche Alm hat mir erst einmal gereicht.


Ein demokratischer Lichtblick

Oktober 2011 – In der Bundestagsdebatte um den Euro-Rettungsschirm (EFSF) hat Bundestagspräsident Norbert Lammert jüngst jeweils einem Abweichler in der Unions- und in der FDP-Fraktion Rederecht eingeräumt. Von ihren eigenen Fraktionen waren sie abgewiesen worden. Nach deren Willen sollte im Plenum eitel Sonnenschein der Einigkeit herrschen. Allein die ganz Linken hätten dann dagegengehalten. Tatsächlich hatten auch die Koalitionsfraktionen schwer um die richtige Position gerungen und es waren eben einige partout nicht auf die Regierungsräson einzuschwören – keinesfalls leichtfertig oder profilierungsneurotisch und durchaus mit mannigfaltiger fachlicher und öffentlicher Zustimmung. In der öffentlichen Debatte sollten die aber per Geschäftsordnung des Bundestages mundtot gemacht werden. Das hat Lammert verhindert. Bravo. Ein Sieg des Parlamentarismus. Lammert handelte auf äußerst dünner rechtlicher Basis, umso fester ist seine moralische. Was wäre das für ein demokratisches Parlament, das bei derart weitreichenden Entscheidungen (eine deutsche Haftung von 211 Milliarden Euro – ungehebelt – und die Währungsstabilität des gesamten europäischen Wirtschaftsraums betreffend) in einer so undurchschaubaren Situation, dass sich kein redlicher Experte wirklich eine Prognose traut, was wäre das für ein demokratisches Parlament, das da nicht im Entscheidungsmoment wirklich noch einmal alle Argumente zu Wort kommen lässt, bevor es unser Schicksal besiegelt. Lammert hat sich einmal mehr gegen die grassierende Kabinetts- oder besser Koalitionsausschuss-, wenn nicht gar Kanzler-Autokratie gestemmt. Nicht um der Kanzlerin zu schaden. Nicht um sich für die eine oder andere Seite einzusetzen. Sondern um unsere demokratische Verfassung zu bewahren. Um dem pluralistischen Wettstreit der Ideen den nötigen Raum zu geben – der einzigen Chance den richtigen Weg aus dieser unfassbar komplexen Krise zu finden.


Freight-Watchers

September 2011 – Es ist ja schon ein wirklich überbemühtes Bild, die Ankunft des orwellschen Big Brothers in der Gegenwart. Für das was das Verkehrsressort der Europäischen Kommission gerade vorhat, muss es aber doch einmal mehr herhalten. Zu gut passen die Brüssler Ideen zu Orwells Grauen vor der unheilvollen Allianz zwischen Totalitarismus und Hochtechnologie: In einem Vorschlag für eine Verordnung zur Änderung der Verordnung [sic!] schlägt die Kommission am 19. Juli 2011 – Gesetzgebungsverfahren 2011/0196 – vor, dass die Standorte von Lastkraftwagen und Bussen künftig via GNSS (Globales Navigationssatellitensystem) automatisch lückenlos verfolgt und aufgezeichnet werden sollen und die elektronischen Fahrtenschreiber (Lenk- und Ruhezeiten, Geschwindigkeit) in den Fahrzeugen jederzeit per Fernabfrage ausgelesen werden können. Nicht mehr und nicht weniger als die Totalüberwachung von Berufskraftfahrern also. Wenn schon Orwell, dann scheint mir, wäre da doch eher eine Gedankenpolizei für Kommissionsbeamte vonnöten oder vielleicht einfach ein wenig Nachhilfe in den demokratischen Grundprinzipien unserer Gemeinschaft, nach denen man in den Menschen zuerst einmal Staatsbürger und nicht Verbrecher sieht, Souveräne und nicht verantwortungslose Untertanen. Weil man jemand zu dem macht, wie man ihn behandelt.


Links-Progression

September 2011 – Staatlich garantierter Mindestlohn, staatliches bedingungsloses Grundeinkommen, staatlich finanzierter kostenloser öffentlicher Personennahverkehr, staatlich bereitgestellte kostenlose Kitaplätze – Staat-as-Staat-as-can! Solcherlei Überzeugungen und Versprechen haben die Berliner gerade mit absoluter Mehrheit (wieder)gewählt: Im neuen Abgeordnetenhaus sitzen dreiviertel dezidiert linke und sozialistische Volksvertreter – inklusive der ach so hoch gelobten jungen „demokratischen“ Kraft, den Piraten, deren Spitzenkandidat (und jetzt Fraktionsvorsitzender) im Interview die Berliner Verschuldung auf „viele, viele Millionen“ geschätzt hatte. Und deren Parteigänger sich in der realen Welt gerne vom Staat umfassend bekümmern lassen wollen, damit sie sich ungestört in eine möglichst staatsmachtlose virtuelle Welt verkriechen können; mehr billigen Opportunismus gab es selten in einer Partei.

Die Wähler haben eindeutig fürs „weiter so“ plädiert. Weiter so mit tatsächlich 64 Milliarden Schulden der Stadt Berlin (Stand September 2011 – annähernd eine Verdopplung in der bisherigen Ära Wowereit, 2001 waren es noch 38 Milliarden) und damit bitte, gerne weiter so mit dem mit Abstand größten Zuschuss aus dem Länderfinanzausgleich von jährlich rund 3 Milliarden Euro, weiter so mit 13,6% Arbeitslosenquote (2010), weiter so mit der Schlusslaterne im deutschen Ländervergleich zur Überprüfung der Bildungsstandards im Fach Deutsch (2009) – gemeinsam mit Bremen, Brandenburg und Hamburg – oder weiter so mit 168.967 Kinder in Hartz-IV-„Familien“ (41% aller Berliner Kindl).

Selten wurde eindrucksvoller belegt, wie wenig besonders viel staatlicher Interventionismus bewirkt. Die Berliner SPD verspricht in Ihrem BERLINprogramm 2011 – 2016 „die Gleichheit der Lebensverhältnisse in der ganzen Stadt“ – angesichts ihrer Regierungsbilanz muss man das als Drohung verstehen: die Neuköllnisierung der ganzen Stadt.


Fliegenfalle

September 2011 – Auf seiner Webpage bietet er ein Verzeichnis ausgewählter Anbieter für „Astrologie, Energiearbeit, Heiler, Heilpraktiker, Lebensbegleitung und Numerologie“ – letzteres die Kunst der Weissagung aus der Symbolik von Zahlen, zum Beispiel in den Ziffern des Geburtsdatums. Drumherum blinkt Werbung für kosmische Jungbrunnen, gespeicherte Wort-Informationen auf Edelsteinwasser zur Früherkennung und Ausleitung von Störimpulsen und zur Stabilisierung der Organ-Energien in den äußeren Energiefeldern (Auswahl von 204 Testern für 4.920,- Euro zuzüglich Mehrwertsteuer), Ausbildungsseminare zum Schöpfer Ihres Lebens und spirituellen Coach (2.800,- Euro), Algentabletten zur Krebszellenabwehr (nehme ich zumindest an, wörtlich heißt es beim Anbieter „Antikrebszellenabwehr“) oder die SeelenTor-Essenz,


ein Auraspray zur Harmonisierung der Aura, sehen Sie selbst (die Aura links ohne, rechts mit der SeelenTor-Essenz).

Seine eigene Gebetsessenz, die 95ml-Flasche zu 39,95 Euro, ein unspezifiziertes „Bioregulat“, für das er über der Abfüllmaschine Gebete gesprochen hat, ist inzwischen, nach massiver Medienkritik, vom Markt verschwunden. Beim „Starnberger SeelenTor Fest für die Seele 2011“ ist er der Top-Act neben Erich von Däniken, der Schlagersängerin und Esoterikerin Penny McLean (Alltag mit Schutzgeistern) und Kristallkind Lena. Bei seinem eigenen jährlichen Kongress „Wörishofener Herbst“ tummeln sich Krebsärzte die mit Wasser heilen, Schamanen, Schutzgeister- und Engelsichtige, Energieheiler, der den Lesern dieser Seiten bereits ausführlich vorgestellte Wunderglotzer Braco (angefragt), Wasserbeleber, Quantenheiler, Gesundbeter etc. etc. neben dem Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche Nikolaus Schneider, der dieses esoterische Treiben einer seiner Hirten ostentativ durch die Zusage seiner Teilnahme absegnet (auch wenn er nach öffentlichem Rumoren über das Wörishofener „Spinner-Treffen“ dann scheinbar doch kalte Füße bekommen hat – bis vor kurzem stand er aber noch im Programm für 2011).

Das wäre ja nun alles nicht einmal mehr der Rede wert – hab ich mich doch über diese billigen Scharlatanerien und ihre wachsende leichtgläubige Jüngerschaft bereits mehrfach ausgelassen – wenn es sich nicht bei dem Beschriebenen um einen Geistlichen handeln würde, einen berühmten dazu: den ehemals öffentlich-rechtlichen Fernsehpfarrer Jürgen Fliege. Der – das muss man angesichts solch hanebüchenen Blödsinns, siehe oben, einfach unterstellen – viel weniger glaubt, als er uns glauben machen will, dafür aber ziemlich genau weiß, was er tut. Warum? Warum wohl? Ruhmsucht und Gier, wie heute vielerorts in den wuchernden Maßlosigkeiten unserer Gesellschaft. Heuschreckenspiritualismus quasi.

Selber denken, ist das einzige, was dagegen hilft. Und sich nicht blenden lassen, weder vom Ornat noch von kreideweichen Reden, und wenn sie auch im Fernsehen kommen.


Leben Sie, wir kümmern uns um die Details

August 2011 – Eine selbstverschuldete und -geduldete Herrschaft macht genauso unfrei wie gewaltsame Unterdrückung. Sicher subtiler, unmerklicher, vermeintlich weniger behindernd. Zumal dann, wenn die Beherrschung nicht an Personen festgemacht werden kann, sondern einfach nur System ist, dem irgendwie alle unhinterfragt folgen. Zumal dann, wenn die herrschenden Dogmen wirklich nur frohe Botschaft verkünden und es den Untertanen dabei ausgesprochen gut geht. Die SPD spricht in Ihrem Grundsatzprogramm von der „stolzen Tradition des demokratischen Sozialismus“. Zwei Aufsätze darüber, wie wir dabei sind unsere Freiheit für die Bequemlichkeit zu verschenken:

Wann erheben wir uns für die Freiheit
Zum pdf-download.

Und in der aktuellen August-Ausgabe des Magazins SMART INVESTOR erschienen:
Dekadenz – Vom Niedergang der gesellschaftstragenden Werte im paternalistischen Wohlfahrtsstaat
Zum pdf-download.


Wer? Wie? Was?

August 2011 – Im Vorfeld der Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern hat der Nordkurier die Bürger von Emnid nach der Beliebtheit der regierenden Politiker befragen lassen. Dabei ging es auch schlicht darum, ob die Mecklenburger und Pommern ihre Volksvertreter überhaupt kennen. Eher mehr weniger. Nun, beim Justizministerium wird so mancher auch andernorts passen müssen, in MV kannten allerdings fast drei Viertel die seit 2006 amtierende Uta-Maria Kuder nicht. Henry Tesch, ebenfalls seit 2006 Kultusminister, war mehr als der Hälfte unbekannt (bei 14,1 Prozent Schulabgängern ohne Abschluss eigentlich ein Mann, der im Kreuzfeuer des öffentlichen Interesses stehen müsste). Die Sozialministerin Manuela Schwesig, immerhin stellvertretende Bundesvorsitzende der SPD und als deren Verhandlungsführerin um von der Leyens Bildungspaket für bedürftige Kinder zuletzt medial bundesweit äußerst präsent, kannten 39 Prozent der Befragten nicht. Da wundert es dann auch kaum noch, dass jeder Zehnte nicht wusste wer Erwin Sellering ist (2000 bis 2006 Justizminister, danach Sozialminister und seit 2008, noja, Ministerpräsident).

Eine derartig hochgradige Entfremdung der Bürger von ihren demokratischen Repräsentanten ist riskant. Einerseits weil der politische Betrieb sich dann ungestört zu verschworenen Machtzirkeln verpuppen kann und andererseits weil in der Demokratie eine gewisse politische Teilhabe der Bürger unabdingbar ist. Die Demokratie braucht die Vielfalt des Pluralismus politischer Ideen – den Wettbewerb möglichst vieler Einstellungen und Überlegungen – um zur bestmöglichen Gestaltung des Gemeinwesens zu gelangen. Den Politikern alleine die Schuld für eine sogenannte Verdrossenheit in die Schuhe zu schieben ist billig. Selbst wenn deren Handeln wirklich nur mehr verdrießlich wäre, so wäre das ja gerade erst recht Grund sich in Parteien, Verbänden oder Bürgerinitiativen für eine bessere Politik zu engagieren. Einfach taub stellen ist allerdings bequemer. Und so zeugen solche Umfragen wie in Mecklenburg-Vorpommern eben nicht von Politikverdrossenheit, sondern von der wachsenden Bequemlichkeit, sich politisch zu beschäftigen, Positionen zu beziehen und damit die Auseinandersetzung zu suchen. Wir lassen uns heute lieber schlecht regieren, als dass wir selbst für eine Regierungsverantwortung mit einstehen möchten.


Alea iacta est

August 2011 – Wer hat die Würfel aus dem Käse gemacht? Für alle, die heute nicht mehr sicher mit Messer und Gabel umgehen können, gibt es den Käse bei ALDI schon vorgewürfelt. Discount your life.


Tretboot in Seenot

Juli 2011 – Auch auf dem Wasser schreitet die Elektrifizierung aller menschlichen Bewegungsmöglichkeiten voran: das Tretboot mit Elektronantrieb ist erfunden. Im BionX SeaScape 12 tritt ein Elektromotor mit in die Pedale. Am Brombachsee soll so was schon bald in den Verleih kommen.
In diesem Zusammenhang hier noch ein kostenloser Tipp an die Produktstrategen der WaterFun-Industrie: Schwimmbretter mit Elektroantrieb gehen sicher auch weg wie geschnitten Brot. Oder gleich Schwimmflügel mit Propeller, weil wozu eigentlich noch selber schwimmen lernen?


Völlig losgelöst

Juli 2011 – Jeder fünfte Arbeitnehmer, 21 Prozent der Beschäftigten haben „keine emotionale Bindung an ihr Unternehmen“ und „verhalten sich am Arbeitsplatz destruktiv, d.h. sie zeigen unerwünschtes Verhalten“. Das hat der seit 2001 jährlich per repräsentativer Stichprobe erhobene Engagement Index der Gallup GmbH für 2010 ergeben. Weitere 66 Prozent weisen „lediglich eine geringe emotionale Bindung auf“, die leisten laut Gallup allenfalls Dienst nach Vorschrift. Dabei geben sich die deutschen Arbeitgeber wirklich Mühe, ihren Angestellten zu gefallen. Durchschnittlich 30 Tage bezahlten Urlaub gewähren sie – das ist ziemlich einsame Spitze in Europa. Bescheidene 37,7 Stunden war 2010 die durchschnittliche tariflich vereinbarte Wochenarbeitszeit in Deutschland. Wenn einem die Arbeit so leicht gemacht wird, sollte man sich ein bisschen Loyalität erwarten dürfen, oder? Ganz zu schweigen davon, dass man meinen möchte, dass den Menschen an ihrer menschlich unerlässlichen Notwendigkeit des Broterwerbs ein bisschen was gelegen sein sollte. Noch nicht einmal aus Dankbarkeit gegenüber jemanden, der bereit ist die Risiken und Anstrengungen auf sich zu nehmen, die mit dem Unternehmertum unweigerlich verbunden sind, sondern allein weil man weiß, dass man nur verdienen kann, wenn man etwas geschafft hat. Einmal mehr überkommt mich der Verdacht, dass sich ein wachsender Teil der Bürgerschaft gedanklich aus dem richtigen Leben ins real existierende Schlaraffenland gebeamt hat. Can you hear me, Major Tom?


Er schaut dich an

Juli 2011 – Manchmal ist es doch zu etwas gut, wenn man BILD liest. Hätte ich sonst je etwas von Braco – sprich „Brath-zoh“ – erfahren. Braco der Wunder-, der Geistheiler (was er tunlichst vermeidet, von sich selbst zu behaupten – ausführlich lässt er allerdings darüber berichten, dass andere ihn für einen solchen halten). Braco, der sich einfach ziemlich belämmert guckend, vollkommen stumm auf Bühnen stellt. Und die Leute kommen, um sich gesund starren zu lassen. Kein gezielter Augenkontakt, sondern so ganz allgemeines Herumgeglotze. Man braucht quasi nur von seinem Blick gestreift zu werden. Für fünf Euro (in den USA acht Dollar), keine zehn Minuten. Wer selber keine Zeit hat, kann sein Foto anstarren lassen. BILD war jüngst beim Anglotzen in Esslingen dabei. Da kamen 4.000. In München waren es im Februar angeblich 6.700. Wem das live-Starren nicht genügt, kann sich danach noch Braco-DVDs, Braco-Bücher oder ein Braco-Foto (80 Euro) kaufen (laut den drei Phasen von Bracos Wirkung auf seiner Webpage, sollte man in Phase zwei nach dem Besuch seine Filme gucken – „Die zweite Möglichkeit ist das Wiedererleben der Begegnung mit Braco durch seine Filme. Diese Wirkung basiert auf dem Prinzip der Resonanz, was sogar wissenschaftlich nachgewiesen ist.“ – und in der dritten Phase Bücher über ihn lesen: „Warum ist gerade das so wichtig? Weil unsere Gesellschaft voller Zweifel und Misstrauen ist und diese Berichte Ihnen zeigen, dass auch Sie sich darüber hinwegsetzen und dass Sie auf diesem Weg sehr viel bekommen können, vielleicht sogar mehr, als Sie erwarten.“). So indoktriniert verstärken sie ihr Angeglotzdasein dann auch gerne mit ein wenig Braco-Heilschmuck (80 bis 150 Euro).

Die pure Abzocke ist bei Braco so offensichtlich, dass es schon körperlich schmerzt, wenn man sieht, wie sich Tausende dafür vereinnahmen lassen und dabei nicht nur ihren Verstand, sondern auch ihr Wohlergehen riskieren. In seiner Gier durchbricht Braco jegliche moralische Grenze. In bester Kurpfuscher-Hybris verspricht er selbst, Krebs heilen zu können (was er allerdings nur auf der italienischen, ungarischen, mazedonischen und der US-Site anpreist, um in Deutschland, der Schweiz und Österreich nicht mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen).

Was treibt uns in diesen zivilisierten Breiten zu derart archaischen Glaubensbekenntnissen, nicht nur wider jegliche Vernunft, sondern auch ohne den frühzeitlichen Nutzen des Glaubens mangels Wissen? Der sprichwörtliche Menschenverstand war es doch, der uns zu dem werden hat lassen, was wir heute sind. Neben der Fähigkeit zum solidarischen, kooperativen Verhalten ist die Vernunft der entscheidende Evolutionsvorteil des Menschen. Seine Fähigkeit in den gegebenen Komplexitäten des Daseins alle erdenklichen Entscheidungssituationen meistern zu können, ohne im Einzelfall dafür konditioniert zu sein, aber auch ohne in endlose Alternativenabwägungen zu verfallen.

Freilich versucht Braco solch vernünftige Anhaltspunkte zu simulieren, indem etwa bei Veranstaltungen „Besucher“ lautstark Zeugnis ihres Glaubens ablegen, durch vielfache Verwebungen in einem kleinen Zirkel von Scharlatanen, die dann dem oberflächlichen Beobachter als zahlreiche verschiedene Belege erscheinen oder durch pseudowissenschaftliche Beweisführungen (zum Beispiel von einem, der vorgibt Professor zu sein – ohne Doktor-Titel und ohne eine Professur in seinem Lebenslauf anzugeben – der aber sicher Präsident der „Schweizerischen Parapsychologischen Gesellschaft“ ist und der seine Argumentation auf Theorien aufbaut, die zugegeben nicht objektivierbar sind und sich ausdrücklich in sinnlich nicht wahrnehmbaren Dimensionen erklären). Oder man verfällt dem Schwindel, weil einem nach ein paar Stunden Warten im Stehen das Blut in die Beine sackt und das Hirn nicht mehr gut durchblutet wird.

Sie merken, wie offensichtlich der Humbug gezimmert ist? Man muss es also schon auch noch unbedingt wahr haben wollen. So bleibt die Frage, warum wir derart unsere Vernunft schleifen? Ich fürchte, weil wir den Bezug zur existenzerhaltenden Funktion der Vernunft verloren haben. Glauben, was man gerne glauben möchte, ist so viel einfacher als vernünftig zu sein. Und in der Wohlstandsgesellschaft, im Wohlfahrtsstaat wird Unvernunft und Nutzlosigkeit nicht spürbar, nicht direkt sanktioniert. Das ändert aber nichts daran, dass unser Überleben nach wie vor von unserer Vernunft abhängt. Von der richtigen Interpretation einer komplexen Umwelt für das gedeihliche Fortbestehen der Menschheit. Mit einer wachsenden Schar Braco-Jünger ist das vermutlich nicht zu bewerkstelligen.


Mach mir das vom Fuß weg

Juli 2011 – Fisch-Pediküre ist der neue Trend der Beautybranche. Man streckt seine Füße ins Goldfischglas und lässt sich die Hornhaut von türkischen Kangalfischen abknabbern. So long and thank’s for the fish.


Zunder geben

Juni 2011 – Nun ist es dahin, das letzte Ur-Gen im Manne, das letzte Rudiment des aufrechten Jägers, die evolutionäre, instinktive Beherrschung eines vordem unbeherrschbaren Elements. Das Zeitalter der selbstentzündenden Grillkohle ist angebrochen – einmal kurz das Feuerzeug hingehalten und die Glut entfacht und erhält sich ganz von selbst ohne jedes Zutun. „Die Feuerpracht / Gibt mir die Macht / Genau zu sein wie du“, sang einst der Orang-Utan King Louie in Walt Disneys Dschungelbuch, um vom entführten Mogli das Geheimnis des Feuer-Machens zu erpressen; „Ein Affe kann kann kann/ Sein wie ein Mann/ So ein Mann wie duhuhu“. Das Pendel der Zeit schwingt zurück, wir machen uns heute lieber selber zum Affen.


Rosskur

Juni 2011 – Auch die Pferde sind bei uns schon auf den Hund gekommen und müssen bei Leiden, Widerborstigkeit oder schlichter Unfähigkeit ihrer Halter und Reiter zunehmend Fragwürdiges – wie Globuli- oder Blutegel-Behandlungen – bis vollkommen Unsinniges – wie Reiki oder Tieraufstellungen*) – über sich ergehen lassen. Die Zeitschrift Cavallo hat im September 2010 einer besonders grassierenden Sorte von Quacksalbern auf die Hasenpfote geschaut, den Tier-Telepathen. Denen genügen vorgeblich ein Foto, ein paar Infos zum Pferd und vielleicht ein Telefonat mit dem Halter respektive der Halterin – denn tatsächlich ist die Kundschaft meist weiblich –, damit sie mit dem Tier in geistigen Dialog treten können, um dem Besitzer die Gedanken und Nöte des Pferdes zu offenbaren. Dass sich die Aussagekraft solcher „Fernfühlerei“ auf dem Niveau von Horoskopen in der Fernsehzeitung, Glückskeksen und Wahrsage-Automaten auf der Kirmes bewegt, vermutet der gesunde Menschenverstand unmittelbar (ganz abgesehen davon, dass beim Großteil aller Tiere die Sprachfähigkeit nicht über ein instinktives Signalverhalten hinausgeht oder dass sie überhaupt ein reflektierendes Ich-Bewusstsein hätten), Cavallo hat’s auch noch bewiesen und testete neun Tier-Telepathinnen (auch die Anbieter sind eher weiblich). Da widersprechen sich unterschiedliche Telepathinnen diametral (die eine meint, dass die Stute Flynn „die Zirkusarbeit und freie Spiele … sehr liebt“, die andere „Zirkus findet sie dagegen langweilig“), außer Allgemeinplätzen und Offensichtlichem stimmt wenig mit den Erfahrungen der Pferdebesitzer überein (der neugierige, aufdringliche Wallach Donald wird zum Beispiel als reserviert und menschenscheu eingeschätzt), es werden abstruse bis gefährliche Behandlungstipps gegeben („einen heilenden Bernstein in der Mähne“ – „schickt Engel-Energie, die die Heilung unterstützen soll“), ein vor drei Jahren verstorbenes Pferd „bewegt sich gern“ und eine zu einem Foto erfundene Stute möchte „Spaß haben“ und „kleine Tricks lernen“, das auf dem Foto aber ein Wallach abgelichtet ist, fällt nicht auf.

Warum so etwas trotzdem funktioniert? Ein Guru der Tier-Telepathie-Szene, Penelope Smith, meint: „Let the sense of meaning unfold by itself. Don't analyze, evaluate or criticize.

Anm.:
*) Tieraufstellungen sind Familienaufstellungen, bei denen auch das Tier durch einen menschlichen Stellvertreter repräsentiert wird, der dann (allein weil er mit anderen Stellvertretern im Raum herumsteht) angeblich Auskunft über das Seelenleben des Tieres in menschlicher Sprache geben kann – eine besonders einfache Methode der Scharlatanerie: Wer könnte kontrollieren, ob/was das Tier wirklich denkt? Und nachdem der Tierhalter zuvor das betroffene Tier und seine Sorgen vorgestellt hatte, wird jedem halbwegs einfühlsamen Stellvertreter unter der zielführenden Anleitung des „Therapeuten“ eine halbwegs plausible Erklärung einfallen, die er in seiner Rolle empfinden könnte. Die gegebene Bauerfängerei wird nicht zuletzt durch die lukrativen Ergänzungsleistungen der Anbieter belegt: Vera Sch.-H. meint “individuelle Bachblütenmischungen können in Verbindung mit der Aufstellungsarbeit helfen, den Seelenfrieden des Tieres wiederherzustellen“, Gisa G. löst nach der Aufstellung beim Tierhalter die angeblich ursächlichen Energieblockaden durch Handauflegen, Andrea W. heilt die Tiere zusätzlich auf einer schamanischen Reise, Tanja W. bietet dazu die energetisch unterstützende Beratung und Sabine P. betreibt sensitive Radionik, bei der mittels Rute oder Pendel eine energetische Systemanalyse erstellt wird und „Heilimpulse können [dabei] energetisch auf ein Remedium geprägt werden oder als Fernheilung gesendet werden“. Don't analyze, evaluate or criticize. Just believe and pay.


Ist der Ruf erst aufpoliert …

Juni 2011 – Als Kunde der Deutschen Telekom setzt man allein schon, weil man Telekom-Produkte nutzt, „ein Zeichen für den Klimaschutz“: „So leisten Sie einen wichtigen Beitrag zu unserem Engagement für die Umwelt, unsere Mitmenschen und nachfolgende Generationen.“ Damit diese fragwürdige Selbstbeweihräucherung auch allen Telekom-Kunden wirklich bewusst wird, verschickt das Unternehmen extra Briefe an seine Kunden, einschließlich einer Dickes-Papier-Broschüre mit nicht viel mehr als eben dieser Aussage (die zudem nicht einmal auf Papier aus nachhaltigen Produktionsschienen – wie zum Beispiel FSC-zertifizierte – gedruckt ist). Ein verblüffend offensichtliches Eingeständnis, wie wenig das Unternehmen das eigene Motto „Gemeinsam nachhaltig handeln.“ tatsächlich ernst nimmt. Es geht hier nicht um die Selbstverständlichkeit nachhaltiger Wertvorstellungen, sondern um ein möglichst absatzträchtiges Image. Nicht die Werte bestimmen das Wirtschaften, sondern das Marketing bestimmt die lukrative Ethik. Man hat keine Moral, man gibt sich einen Corporate-Responsibility-Kodex (der andernfalls vollkommen überflüssig wäre, weil da die wertegebundene Verantwortlichkeit sowieso ursprünglicher und unbedingter Bestandteil der Unternehmensführung ist).


Gaudeamus igitur

Juni 2011 – In einem Interview mit dem KulturSPIEGEL (Ausgabe 6/2011) redet der Philosoph(ieprofessor) Robert Pfaller vehement dem Genuss als einzigen Sinn des Daseins das Wort. Das Lohnenswerte am Leben reduziert er auf Banalitäten wie eine Zigarette beim Kaffee oder Ballspielen an einem Sommerabend. Die Maßlosigkeit ist ihm dabei das erquickende Prinzip: „Glücklich sind wir, wenn wir mit Freunden trinken, rauchen, tanzen bis zum Umfallen.“ Zugleich verpönt er Zweck und Ziel und Aufgabe als Spaßbremsen. „Die Sinnfrage stelle ich bewusst nicht.“ Da hat nun offenbar die Trivialisierung auch schon die Philosophie erreicht, nach dem Motto: Ich frage nicht, dann vermisst auch niemand eine Antwort. Pfaller stellt die Realität gar auf den Kopf und versteigt sich, unsere Gesellschaft eine asketische zu nennen. So erteilt er der dekadenten Spätmoderne doppelt die Absolution. Er normalisiert die gegebene Moralfreiheit der Freizeit- und Spaßgesellschaft als vorgebliche Spießigkeit und befördert damit jede weitere Verspaßung und jeden zusätzlichen Müßiggang zur ethischen Glanztat. Dem Verkauf seines aktuellen Buches Wofür es sich zu leben lohnt ist das erwartungsgemäß zuträglich. Der Köder muss dem Fisch schmecken. Warum sich also mit schwerverdaulichen tiefschürfenden Seinsfragen herumquälen?

Nun ist ja gegen Ballspielen am Abend und Zechen mit den Freunden beileibe nichts einzuwenden. Einfach leben und ab und wann mal etwas unvernünftig über die Stränge schlagen, ist aber schon ein arg dünner Sinn des Lebens. Hätte so eine Philosophie allgemeine Gültigkeit, wäre uns die Niederschrift wohl erspart geblieben: Herr Pfaller wäre wahrscheinlich schon gezeugt, eventuell auch geboren worden, wohl kaum aber hätte sich jemand gefunden, ihn großzuziehen: Warum sich tagein, tagaus den Spaß von so einem kleinen Hosenscheißer verderben lassen?
Vor allem aber negiert Pfaller ein Meer von Erkenntnissen der Soziologie, Psychologie, Evolutionsbiologie, Hirnforschung und inzwischen ja sogar der Ökonomie (ganz abgesehen vom gesunden Menschenverstand). Wohlbefinden, Glück, das ist weit mehr als die pure Existenz und das materielle Auskommen, auch wenn es noch durch mondäne Eskapaden versüßt wird. Sicherheit, Gesundheit, Altruismus, Neues erforschen, dazulernen, Ziele haben und erreichen, wahrgenommener und anerkannter Teil einer Familie/Gemeinde sein, politische Teilhabe oder Freiheit, das sind alles anerkannte Glücksbringer, die in der pfallerschen Religion keinen Platz haben, weil sie komplex und verwirrend die stetige Auseinandersetzung fordern und sich eben nicht auf eine einzige Dimension reduzieren lassen und schon gar nicht auf die Don’t-worry-be-happy-Dimension.
Bei Aristoteles ist es gerade die Bereitschaft, sich dieser Multidimensionalität zu stellen und in allen Ebenen das gesunde Mittelmaß zu finden das Kennzeichen des geglückten, des glücklichen Lebens. Das macht das Leben nicht einfacher, aber wer um Gottes Willen hat bloß das Gerücht in die Welt gesetzt, in diesem schon vom vermuteten Anbeginn hochkomplexen Universum ließe es sich einfach leben? Wem das zu theoretisch ist, der sollte vielleicht mal bei der Eckkneipe in seiner Straße vorbeischauen und sich einen Eindruck machen vom Glück der Gäste, die da Abend für Abend mit den Kumpels trinken, rauchen und manchmal auch tänzelnd umfallen.


Elektro-Immobilität

Mai 2011 – Es war wohl wirklich nur eine Frage der Zeit, der Trend beim Fahrrad geht ja schon länger eindeutig in Richtung Elektro-Fahrrad, im Einzelhandel füllen sie schon ganze Verkaufsräume. Das Nahen der endgültigen Pervertierung war dementsprechend beinahe absehbar: das E-Mountainbike. Alternativ gibt es inzwischen auch Haltevorrichtungen, damit man ein altmodisch unelektrifiziertes Mountainbike bequem im Sessellift mit auf den Berg nehmen kann. Wenn man jetzt sogar schon beim Sport Bewegung und Anstrengung zu meiden sucht, was wird uns da wohl noch alles bevorstehen: vielleicht E-Rollerblades, Jogging-Parcours mit Rollbändern oder
E-Heimtrainer beziehungsweise E-Indoorbikes fürs E-Spinning?!


Ohne Worte

Mai 2011 – Die alten Schätzungen der Stiftung Lesen zur Analphabetenrate müssen deutlich nach oben korrigiert werden. Das Bundesbildungsministerium hat eine neue Untersuchung vorgestellt: 7,5 Millionen funktionale Analphabeten gibt es in Deutschland; 7,5 Millionen erwachsene Deutsche, die beim Schreiben und Lesen zusammenhängender – auch schon einfacher, kürzerer – Texte scheitern, so dass sie in ihrer Sprachanwendung den gegebenen minimalen und als selbstverständlich erachteten gesellschaftlichen Anforderungen nicht gerecht werden. Weitere 13,3 Millionen zwischen 18 und 64 Jahren beherrschen die Rechtschreibung nicht einmal auf Grundschulniveau und lesen Texte mit gebräuchlichen Wörtern nur langsam und/oder fehlerhaft. Zusammen sind das 40 Prozent der deutschen Bevölkerung im Erwerbsalter. 40 Prozent, die in ihrem Alltag das Lesen und Schreiben, wenn möglich, vermeiden. (leo. Level-One Studie. Literalität von Erwachsenen auf den unteren Kompetenzniveaus, Prof. Dr. Anke Grotlüschen, Universität Hamburg 2011)

Laut unserem regionalen Chef der Agentur für Arbeit brechen 21 Prozent der Lehrlinge ihre Ausbildung ab. Nur die Hälfte von denen fängt danach wieder eine neue Lehre an. Sieben Prozent der Jugendlichen kommen erst gar nicht so weit und verlassen die Schule ohne Abschluss.

Das Bestreben, sich die grundlegenden Kompetenzen für ein selbstverantwortliches Leben und den eigenständigen Broterwerb anzueignen, ist offenbar in weiten Teilen der Bevölkerung gering. Statt zu lernen schauen sie sich lieber in der Glotze an, wie Kabel1 Boris Becker als Retter in Berliner Problemschulen schickt, weil „Boris macht Schule“. Das Anpacken ist passiviert, an Fernsehen und Staat delegiert. Man vertraut auf die Discounter-Werbung, es wäre alles „Besser als wie man denkt!“ (KiK).


Frühkindliche Verziehung

Mai 2011 – Das Magazin Glamour hat eine Fünfjährige auf die Liste der bestgekleideten Stars gewählt (Suri Cruise, die Tochter von Tom Cruise und Katie Holmes). Designerklamotten, High Heels und Make-up halten Einzug im Kindergarten. Voll im Trend daher auch Kinder-Wellness und Beauty-Anwendungen ab vier Jahren: einfache Fuß-, Hand- und Rücken-Massage, ayurvedische Körperölung, Cremepackungen im warmen Wasserbett oder ganz besonders „kindgerecht“ Schoko-Massage, Erdbeerquark-Maske, Schaumbad mit Gurkenbrille, Prinzessin Lillifee-Glitzermassage, Dornröschenpeeling, Schokosahne-Bad, Fred-Feuerstein-warme-Steinmassage und schließlich bei einem Gläschen Kindersekt auch Maniküre und Pediküre mit Nägellackieren, Wellnessfriseur und Schminken vom leichten Tages-Make-up bis zum Wimpernfärben. Von klein auf wird da eine Nachkommenschaft auf narzisstische Nutzlosigkeit konditioniert. Von klein auf wird ihnen die gegebene Leichtigkeit des (Kind-)Seins als Stress eingeredet, den man sich nur im Spa-Resort abkonsumieren kann. Mir graut vor einer Welt, die von lauter Barbies und Kens beherrscht wird.


Aus dem Landtag

Mai 2011 – Eigentlich hätte ich es ja wissen müssen, habe ja sogar selbst schon darüber geschrieben, aber dann war es doch wieder ein Erschrecken ob dieses Trauerspiels der Demokratie: die Plenarsitzung gewählter Volksvertreter eine Bundeslandes. Warum trifft man sich überhaupt in „Voll“versammlungen und überträgt sie sogar live im Internet, wenn das Ganze doch nur als Abgesang des Pluralismus und der (Diskussions-)Kultur daherkommt.

Das kleine Häuflein, das sich die offenbar größtenteils schlecht vorbereiteten und vornehmlich tröge, oft stockend vorgetragenen Redebeiträge antut, hineingetupft in die gähnende Leere des Plenarsaals einschließlich der Kabinettsbänke, beschäftigt sich unübersehbar mit allem, nur nicht mit dem, was gerade zur Diskussion steht. Die Landtagspräsidentin kommt nicht hinterher, zu ermahnen, um immer wieder dem überlauten Geschwätz Einhalt zu gebieten. Es wird gemailt, gesimst und schamlos offen telefoniert, es wird in Kleingrüppchen diskutiert, gegähnt, gedöst und hat man qua entsprechender Konditionierung doch bei einem Stichwort aufgemerkt, wird anstandslos dazwischen geprollt (wenn sich nicht gerade jener, überhaupt nur deswegen in die Sitzung begeben hat, um eben gerade da zu plärren). Gefehlt hat eigentlich nur Essen und in der Nase Popeln.

Besonders tragische Aufzüge sind die dialogischen Inszenierungen der Zwischenfragen. Nicht wegen ihrer Polemik, Schärfe oder weil man den Redner bewusst aus der Reserve locken will. Nein, sondern weil diese Frage-und-Antwort-Zwischenspiele ein einziges unsägliches Aneinandervorbeigerede sind. Da reicht es nicht einmal dazu, dass man den anderen auch nur halbwegs verstanden hätte, geschweige denn dass es einen aufeinander beziehenden Austausch von Argumenten gäbe.

Das Ganze ist derart fad und quälend ermüdend, dass man schon fast wieder Verständnis für die Abwesenden aufbringen möchte. Da hilft es auch nichts, dass regelmäßig beteuert wird, die eigentliche politische Arbeit fände in den Ausschüssen statt (kaum vorstellbar, dass es da anders zuginge) beziehungsweise würde in den Gremien der Ministerien und des Kabinetts abgestimmt. Das Plenum ist und bleibt aber der zentrale Ort der repräsentativen Demokratie. Und wenn die öffentliche pluralistische Auseinandersetzung zwischen den Volksvertretern hinfällig geworden sein sollte – und eben diesen Anschein geben die Plenarsitzungen – dann bräuchten wir gleich nur noch Parteipräsidien und könnten auf die Mandatsträger ganz verzichten. Das Foto mit der Besuchergruppe für die Heimatzeitung reicht allein nicht zur Rechtfertigung.

Bei der wirklichen Auseinandersetzung aller – Rede und Widerrede, Beifalls- und Missfallsbekundungen, Zwischenfrage und Intervention, Stellungnahme und Gegenfrage – ließe sich auch gleich nicht mehr ganz so leicht das Deckmäntelchen des Fraktionszwanges über das Gewissen ziehen (ganz abgesehen davon, dass bei entsprechend intensiver Beschäftigung erheblich weniger Gesetze, weniger Bürokratie zustande käme).

Also, Plenarsaaltüren auf, alle, wirklich alle, rein – Handys, Smartphones, Notebooks und so weiter müssen draußen bleiben – die ganze Truppe auf einen Ehrenkodex zur überzeugenden Rede und durchdachten Gegenrede vergattert und keiner kommt raus, bevor sich nicht zu jeder Debatte eine Zweidrittelmehrheit gefunden hat, diese Debatte zu beenden und über ihr Ergebnis abzustimmen. Oh, wie viel Vernunft könnte derart wieder Einzug in der Politik halten, allein schon weil man plötzlich zuhören müsste und mangels Ablenkung das eine oder andere Mal vielleicht dann sogar mitdächte.


Alter Egos

April 2011 – Noch einmal Zahlen aus Society at a Glance 2011 der OECD: 2008 kamen in Deutschland auf einen Rentner (65+) drei Personen im Erwerbsalter (20 - 64 Jahre) – nur in Italien und Japan war die Situation noch trostloser; 2050 werden es nur eineinhalb im Erwerbsalter sein, die einen Rentner unterhalten müssen. Wer 2050 mit 65 in Rente ginge, wird zudem durchschnittlich noch weit über 20 Jahre leben. Ein selbsterhaltender Teufelskreis: Laut einer Studie des internationalen Wissenschaftsverbundes „Population Europe“ neigen Ältere und Kinderlose dazu, „eine Rentenpolitik zu bevorzugen, die der jüngeren Generation eine größere Last aufbürdet“. Dreimal verloren: Immer weniger Arbeitende sollen für immer mehr Rentner mitverdienen, die davon immer länger zehren und ihre Mehrheit für immer umfangreichere Leistungen einsetzen werden. Da ist uns offenbar ein Instinkt gänzlich abhanden gekommen: die Arterhaltung.


Stresstest

April 2011 – Knapp siebeneinhalb Stunden verbringen die Deutschen durchschnittlich pro Tag mit Erwerbsarbeit (einschließlich Aus- und Weiterbildung) und unbezahlter Arbeit (wie Haushalt, Kinderbetreuung oder Altenpflege) – 445 Minuten täglich, der Rest ist frei. Das ist selbst im OECD-Vergleich äußerst wenig, in den USA sind es über acht Stunden, in Japan neun, in Mexico fast zehn. Im größeren Teil der restlichen Welt ist sowieso der ganze wache Tag von Arbeit geprägt und die Nacht zudem oft kurz. Denen muss es fast wie Hohn klingen, wenn der DGB-Vorsitzende Michael Sommer die deutschen Arbeitszeiten „familienfeindlich und gesundheitsschädlich“ nennt (gegenüber der WELT im September 2008). Kein Wunder, dass alle von Stress reden, bei solchen Souffleuren – mit Tatsachen hat das aber, wie man sieht, herzlich wenig zu tun.
(Datenquelle: Society at a Glance 2011: OECD Social Indicators)


Faites vos jeux!

April 2011 – Nicht nur Finanzprodukte werden zu reinen Spekulationsgeschäften missbraucht, sondern immer öfter auch Nahrungsmittel. Warentermingeschäfte, die Vereinbarung einer Lieferung in der Zukunft zu einem heute fest gelegten Preis, sind schon lange Usus in der Nahrungsmittelbranche. Ursprünglich dienten sie der Preissicherung, für planbare Kosten- und Leistungsstrukturen bei Produzenten und Lieferanten. Mehr und mehr werden die Rohstoffe aber gehandelt, ohne dass von den Akteuren überhaupt ein Interesse an den Waren an sich besteht. Die Nahrungsmittel werden Gegenstand reiner Spekulation ohne realwirtschaftlichen Hintergrund. „So werden beispielweise 3,4 Millionen Tonnen Kakaobohnen im Jahr geerntet, aber etwa 60 Millionen Tonnen gehandelt“, berichtet die ZEIT vom 24. Februar 2011. Die gesamte Ernte wird also 18 Mal verkauft und gekauft, meistens ohne den tatsächlichen Austausch der Waren. Aus solchem Handelsgebaren entstehen künstliche Knappheiten, die sich unweigerlich auch auf die Preise auswirken – laut Handelsblatt stieg etwa der Preis von Kakao an der Londoner Rohstoffbörse innerhalb von fünf Jahren von 1.000 auf 2.200 britische Pfund (09.08.2010); Mitte Juli 2010 hatte ein einzelner Spekulant, Anthony Ward, Kakao im Wert von einer Milliarde US-Dollar gekauft, 241.000 Tonnen, sieben Prozent der Weltproduktion, die Preise sprangen schlagartig auf Rekordniveau. Der ursprüngliche Stabilisierungseffekt der Terminbörsen kehrt sich durch die zunehmenden Spekulationen inzwischen ins Gegenteil um: die Agrarerzeugnisse unterliegen erheblichen Preisschwankungen – nicht weiter wunderlich, nur bei Preisschwankungen können sich Spekulationen rentieren, umso volatiler, umso lukrativer. Bei Weizen oder Mais mit direkten Auswirkungen auf den Hunger in der Welt.

Die tatsächliche Abkoppelung einzelner Teile der Wirtschaft, namentlich der Finanzwirtschaft, von der Wertschöpfung ist spätestens in der Subprime-Krise überdeutlich geworden. Da war es den Kasino-Bankern ja sogar gelungen, den Anschein zu erwecken, dass sie aus Stroh Gold spinnen könnten (aus maroden Immobiliendarlehen rentable Anlagen). Mit der Idee einer Marktwirtschaft im Erhardschen Sinne hat das nichts mehr gemein. Für Ludwig Erhard und dessen Vordenker hatte die Wirtschaft keinen Selbstzweck, sondern es ging allein um ihren Nutzen für die Verbraucher, die Menschen, das Volk. Treten Sie doch einmal gedanklich mit mir einen Schritt zurück von den abstrahierenden Komplexitäten der modernen Wirtschaftswelt: Wirtschaft ist doch in Wirklichkeit nicht mehr als die arbeitsteilige Organisation der Sicherstellung des Lebensunterhalts. Und genau danach ist die moralische Rechtfertigung einzelner Wirtschaftsakteure beziehungsweise deren ordnungspolitische Eingrenzung abzuleiten: am Beitrag zur Wohlfahrt der Bevölkerung. Umso partikulärer der Nutzen, umso weniger die moralische Berechtigung des Nutznießers.

Die perfiden Spekulationen mit Nahrungsmitteln erzeugen über künstliche Knappheiten und Preisvolatilität massenhaft Wohlfahrtsverluste zu Gunsten einer sehr überschaubaren Zahl von branchenfremden Kapitalanlegern. Das ist, wie wenn man beim russischen Roulette einem anderen die Pistole an den Schädel hält.


Ausgesprochen unausgesprochen

April 2011 – Zweieinhalb Stunden (158 Minuten) verbringen Kinder im Alter von sechs bis 13 Jahren durchschnittlich täglich am Bildschirm mit Fernsehen (98 Minuten), Internet-Surfen (24 Minuten) und beim Spielen am Computer oder mit der Konsole (36 Minuten) laut KIM-Studie 2010 (Kinder + Medien, Computer + Internet; Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest). Gelesen wird durchschnittlich 21 Minuten täglich, ein Fünftel der Kinder gibt an, in der Freizeit nie zu lesen (der Anteil lag 2005 noch bei sieben Prozent), 44 Prozent lesen zurzeit kein Buch.

Da zeichnet sich mehr als bloß ein medialer Wandel ab. Es verändert sich die Kommunikation. Aufgrund der Passivität des Bildschirmmedienkonsums werden unweigerlich weniger Kommunikationskompetenzen erworben (beim Fernsehen lernt man ja nicht Filme zu machen, wie man beim Lesen Ausdrücken und Schreiben lernt). Die individuelle Fähigkeit, Bestandteil des gesellschaftlichen Gedankenaustausches zu sein, nimmt entsprechend ab. Die vordergründige Dimensionserweiterung moderner Medien durch bewegte Bilder und Ton trügt. Weil eben die Medien nicht erlernt, sondern nur konsumiert werden. Der Austausch von Handy-Fotos und -Filmchen via MMS, Facebook und YouTube kann die Ausdrucksvielfalt und Gestaltungsspielräume sprachlicher Auseinandersetzung nicht ersetzen. Kommunikation wird passiviert und trivialisiert.


Winter Wonderland

März 2011 – Zauberteppich, Teppichlift, ein langsam laufendes Förderband als Skilift für Anfänger in den Skischulen – nicht neu, aber passend zum Ende der Skisaison auch hier einmal eine Erwähnung wert. Vorne werden die kleinen Skipüppchen draufgestellt und oben wieder runtergehoben. Andernfalls könnte das Erlernen dieses Sports ja tatsächlich mit Bewegung verbunden sein. Von einem Freund hab ich die Geschichte, dass sich die Skilehrer an einem windigen Tag entlang des Fließbandes aufgestellt hatten, weil die Kinder immer runtergekippt sind und unterwegs öfter wieder aufgestellt werden mussten. Die Eltern der Skipüppchen fahren dann derweilen im Sessellift mit Wetterhaube und Sitzheizung (Hochfügen-Hochzillertal) – der Bequemlichkeit halber wohl bald rauf und runter.


ish hasse disch einfach

März 2011 – Am Beispiel iShareGossip.com (übers.: ich teile Geschwätz) offenbart sich unsere naive Hilflosigkeit im politischen Umgang mit dem Internet. Einziges Ziel dieser deutschsprachigen Website ist die schrankenlose, anonyme Hetze auf (Mit)Schüler. Ohne Anmeldung und unter Zusicherung absoluter Anonymität können Schüler auf der Website ihren rechtschreibfreien Unflat über andere ausgießen, sauber geordnet nach Bundesländern, Städten und Schulen – „[Name] du hurentochter du halt lieber mal ganz schnell deine fresse bevor ich mein …“, „ja dich du wixxa ich geb dir mittwoch nach ausflug ein nacken wenn ich dich sehe“, „ihr mistqeburten kinder einfach hänqt euch auf“, „[Name] hässlig fett knecht schwul hab undd nicht fettttttttttttttt zu vergessen“, „vallah ihr kleinen mistkinder ich focke eure toten ihr hundesöhneee“. Eine schier endlose Multiplikation von gemeinen, rassistischen und sexistischen Beleidigungen und Kommentaren darauf, deren Spektrum ich hier aus Anstand gegenüber meinen Lesern nicht einmal annähernd wiedergegeben kann.

Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien hat die Seite inzwischen auf Betreiben der Bundesfamilienministerin indiziert, deutsche Suchmaschinen zeigen die Website daher (freiwillig) nicht mehr an und Jugendschutzfilterprogramme blockieren die Adresse. Damit hat die Staatsmacht aber offenbar ihr Pulver verschossen. iShareGossip ist unverändert erreichbar. Die komplette Sperrung der Seite ist in Deutschland rechtlich nicht möglich, weil der Host von iShareGossip im Ausland sitzt, in Schweden. Das aber ist doch die Kapitulation des Rechtsstaates. Was offline unmittelbar konsequentes und abschließendes staatliches Eingreifen bedingen würde – wenn solch persönliche Angriffe zum Beispiel als Zeitung herausgegeben würden – wird online resignierend geduldet. Der Staat sieht tatenlos zu, wie die Würde seiner Bürger mit Füßen getreten wird.

„Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt“, ist der kategorische Imperativ in Artikel 2 unseres Grundgesetzes. Wer sein Recht auf freie Meinungsäußerung derart systematisch und absichtlich missbraucht, indem er vorsätzlich oder auch nur billigend in Kauf nehmend ein Medium anbietet, das auf nichts anderes als Beleidigung, üble Nachrede und Volksverhetzung abzielt, der gehört verboten, abgeschaltet, gesperrt. Und wenn die rechtlichen Voraussetzungen dazu in Deutschland und Europa noch fehlen, dann ist die Legislative gefordert, sie zu schaffen. Nicht um die Meinungsfreiheit zu beschränken, sondern um die Angriffe auf die Lebensfreiheit zu verhindern.


Abgezählt

März 2011 – Epson, Canon, Brother (und es wäre ein Wunder, wenn nicht auch andere Hersteller) schalten ihre Tintenstrahldrucker nach einer bestimmten Anzahl von Ausdrucken planmäßig auf defekt. Ein Zähler-Chip, „waste counter“ oder kryptischer „protection counter“ genannt, generiert nach der voreingestellten Zahl der vorgesehenen Drucke eine Fehlermeldung und blockiert alle weiteren Druckversuche. Dahinter steckt nun nicht ganz ausschließlich Profitgier, sondern wohl auch ein gewisser realer Hintergrund – nämlich der geschätzte Füllstand für den Auffangbehälter der bei der Druckkopfreinigung anfallenden Alt-Tinte. Das ändert aber nichts daran, dass sich der Drucker unabhängig vom tatsächlichen Verschleiß vorprogrammiert selbst verschrottet. Wahrscheinlich wäre das Gerät ganz ohne Eingriffe noch lange voll funktionsfähig, in jedem Fall wäre es aber ein Leichtes die Alt-Tintebehälter auswechsel- oder auswaschbar zu machen.

Nun wird man einwenden, dass bei Anschaffungspreisen ab 30 Euro (!) kein druckendes Perpetuum mobile zu erwarten sein kann und natürlich wird hier profitabel mit der Dummheit der Geiz-ist-geil-Käufer jongliert. Aber selbst bei einem Bleistift für ein paar Cent erwarte ich von einem ehrbaren Anbieter, dass er mir den nicht mit vorgebrochener Mine verkauft, und der Bleistift gegebenenfalls auch noch als Stummel hinreichend dienlich ist. So aber werden schamlos Käufer hinters Licht geführt und verantwortungslos ressourcenzehrende Drucker-Müllberge fabriziert.

Derartiges Wirtschaften klinkt sich aus seinem gesellschaftlichen Zusammenhang aus. Das Restrisiko schlechten Gewissens wird in den anonymen Verantwortungshierarchien der Großkonzerne bis zur Unkenntlichkeit kreuz- und quergemanagt. Ein mit dem eigenen Namen für sein Produkt einstehender Familienunternehmer würde hingegen einen „waste counter“ seinem Entwicklungsingenieur um die Ohren hauen. Weil er weiß, dass, wenn so etwas ruchbar würde, sein Ruf und damit seine künftigen Absatzchancen ruiniert wären – und würde er sich auch noch so sehr als billiger Jakob anbiedern wollen. Die direkte Verknüpfung von Produkten oder Dienstleistungen mit einer haftenden Person ist das Fundament einer verantwortlichen und damit viel eher nachhaltigen Marktwirtschaft. Haftung ist ein Schlüsselwort für die zukunftsfähige Gestaltung des Wirtschaftens. Wo wären wir wohl heute zum Beispiel in der Entwicklung der regenerativen Energieversorgung, wenn die Vorstände und Aufsichtsräte der Energiekonzerne die Haftung für die Endlagerung des von ihnen produzierten Atommülls tragen müssten? Wie viel leichter wäre die Staatsverschuldungskrise in der Euro-Zone zu lösen, wenn die Profiteure der hochverzinslichen Staatsanleihen nun auch ihren Teil am Staatsbankrott etwa Griechenlands tragen müssten, indem sie einen beachtlichen Teil ihrer Forderungen abschreiben? Wäre der Kasinokapitalismus der Subprime-Krise so weit getrieben worden, wenn auch nur ab und wann in dem ganzen Karussell einmal einer ganz persönlich seinen Kopf (und sein privates Vermögen) hätte hinhalten müssen?


Spiel ohne Grenzen

März 2011 – Die Multifamilientherapie nach Eia Asen und Michael Scholz ist ein wirksames Verfahren gegen Magersucht oder Bulimie bei Kindern. Ein Leitgedanke dieses systemischen Ansatzes ist „Eltern müssen wieder Eltern werden“. Dementsprechend lernen die Eltern im Laufe der Therapie, die notwendige elterliche Autorität durchzusetzen. Sie lernen, ihren Kindern Grenzen zu setzen.
Nun wäre es billig, im Umkehrschluss allein den Eltern die Schuld für die Erkrankung ihrer Kinder in die Schuhe zu schieben. Da können wohl auch viele andere Gründe mitwirken oder sogar hauptursächlich sein. Trotzdem macht es einmal mehr die notwendige Auseinandersetzung in der Erziehung deutlich. Lernen, Heranwachsen heißt Grenzen des Vermögens und des Möglichen auszutesten, auch Grenzen zu übertreten und die Konsequenzen daraus zu erfahren. Das kann aber nur funktionieren, wenn es Grenzen gibt, wenn sie nötigenfalls gesetzt werden und Übertritte sanktioniert werden. Und wer könnte diese Aufgabe besser, liebevoller übernehmen als die Eltern?

Die grassierende Erziehungsverweigerung, weil man sich schon nachmittags nicht mehr aus dem Fernsehsessel aufraffen kann oder aus anderen Gründen der antiautoritären Bequemlichkeit erliegt, ist ein Verbrechen an den Kindern und letztlich damit auch an unserer Gesellschaft. Passen Sie einmal auf, wie viele ungestörte Sätze sie mit einer Mutter/einem Vater in Anwesenheit ihres/seines Kindes wechseln können (ohne dass es dieser Mutter/diesem Vater überhaupt noch auffiele, dass man ob der laufenden Unterbrechungen keinen einzigen Gedanken zu Ende bringen konnte), oder ob das Ü-Ei an der Kasse doch im Einkaufswagen liegt, obwohl dem nölenden Kind zuvor im Laden schon zigmal versichert worden war, dass es heute nichts gibt, oder wie lange „aber nur eine halbe Stunde“ Computer spielen in der Regel so dauert …


Buchführung

Februar 2011 – Facebook ist lieb. Deswegen will es dir helfen, deine Freunde zu finden. Wer sich bei Facebook neu anmeldet, dem wird der Friendfinder angeboten. Wenn man zustimmt, durchforstet ein Programm automatisch den Computer oder das Smartphone nach Adressbeständen und lädt alles, was es findet, auf die Facebook-Server hoch. Mit den Daten kann einem der Dienst dann gleich beim ersten Besuch ein paar Bekannte vorschlagen, die schon Mitglied sind und mit denen man sich dann auch virtuell verbandeln kann – damit man sich am Anfang nicht so allein fühlt, echt nett gell. Als kleinen Lohn für die Nettigkeit behält sich Facebook die Adressdaten, um zum Beispiel diejenigen darunter mit E-Mails zu penetrieren, die noch keine Nutzer sind. Bei derzeit 15,1 Millionen Mitgliedern in Deutschland heißt das: Facebook kennt uns alle. Uns und unsere Beziehungen.

Wer bei Googles kostenlosem E-Mail-Dienst ein Konto einrichtet, erlaubt Google die darüber abgeschickten und eingehenden Nachrichten zu lesen beziehungsweise nach Schlagwörtern zu durchsuchen, um gezielte Werbeangebote unterbreiten zu können. „Google scannt den Text von Google Mail-Nachrichten […] Google verwendet diese Scan-Technologie auch, um zielgerichtete Textanzeigen und andere verwandte Informationen liefern zu können“, heißt es in den Datenschutz-Erläuterungen von GoogleMail. Google weiß, was wir wollen.

Im November 2010 hat Facebook seine Social Inbox vorgestellt, mit der das Unternehmen den Kommunikations-Markt revolutionieren will, indem es klassische E-Mail, Instant Messaging, SMS, Chats und ähnliche Dienste in einer Anwendung integriert. Inklusive einem unbegrenzten Speicher aller jemals darüber abgewickelter Nachrichten (der auch nach einer Abmeldung nicht gelöscht wird). Dann weiß Facebook bald, was wir denken, gedacht haben und denken werden – und wird uns dann entsprechende Informationen anbieten.
Schon jetzt lassen sich zum Beispiel allein aufgrund von Google-Suchanfragen Zukunftsvorhersagen ableiten (das Institut zur Zukunft der Arbeit IZA in Bonn prognostiziert damit zum Beispiel die Arbeitsmarktentwicklung einen Monat voraus). Was erst, wenn an einer Stelle verschiedenste persönliche Daten, all unsere Kommunikation, unser Beziehungsnetzwerk und zunehmend auch geografische Daten (über Fotos mit eingebetteten GPS-Daten oder die Ortung von Smartphones) gespeichert sind und analysiert werden können?

Natürlich sind diese Dienste alle bequem. Aber hat denn diese Bequemlichkeit unsere Vernunft schon so sehr vernebelt, dass wir aus eigenem Antrieb die umfassende, annähernd irreversible und vor allem vollkommen unkontrollierbare Aufgabe der Hoheit über die Speicherung und auch Verarbeitung unserer privaten Informationen betreiben. Selbst ohne jemandem irgendeinen bösen Willen bei der Verwendung dieser Datensammlungen zu unterstellen, wollen wir denn wirklich, dass immer mehr für uns gedacht wird, anstatt dass wir selber denken? Wollen wir in rapide wachsendem Umfang unser Leben in die Hand von Algorithmen legen?

Man existiert auch, wenn man nicht in Facebook ist. Wirklich. Sogar wirklicher.


Am Pulsmesser der Zeit

Februar 2011 – Nach was strebt unsere Gesellschaft? Volkseinkommen, Wohlstand, Gesundheit, Glück …? Wie messen wir den Erfolg dieses Strebens? Welche Schlüsse zieht die Politik aus dieser Erfolgskontrolle? – Auf all diese Fragen gibt es derzeit nur eine Antwort: Wachstum des Bruttoinlandsproduktes. Aber macht das wirklich Sinn?

Denkt weiter!, ein Beitrag zur Debatte:

Link zur veröffentlichten (kürzeren) Fassung in der ZEIT Nr. 8,17. Februar 2011

Download des ganzen Essay: "Was wir messen, bestimmt, was wir tun"


Außenbeitrag

Februar 2011 – Karl Popper war überzeugt und berief sich dabei auf Voltaire, dass wir die Toleranz zerstören, wenn wir die Intoleranz tolerieren. Intoleranz untergräbt die Basis menschlichen Zusammenlebens. Was könnte zersetzender wirken, als wenn in einer Gemeinschaft einzelne sich für unfehlbar erklären? Fundamentalismus und Diktatur sind daher regelrechte Verkörperungen der Intoleranz. Das sollte uns nicht nur bei den Taliban, al-Qaida oder den Muslimbrüdern bewusst sein, sondern auch wenn wir für Absatzmärkte, also zur Steigerung unseres Wohlstandes, mit Diktatoren kollaborieren.

Die Aufstände im Maghreb haben gerade unser von Djerba-Stränden und Rotem Meer weichgezeichnetes Bild ein wenig aufgeklärt. In Libyen ganz offenbar, wenn Muammar al-Gaddafi die Intoleranz auf die Spitze treibt, indem er Andersdenkende nicht nur nicht toleriert, sondern von seinen Söldnern abschlachten lässt.

Nutzen wir die Gunst der Stunde und schauen mit klarerem Blick zum Beispiel nach Weißrussland; dort hält sich Alexander Lukaschenko seit 1994 mit getürkten Wahlen und massiven Menschenrechtsverletzungen an der Macht und Deutschland exportierte 2009 für 1,6 Milliarden Euro Waren dorthin, seit Mai 2009 ist Weißrussland dezidierter Ost-Partner der EU. In Äthiopien unterhält Meles Zenawi wahrscheinlich Internierungslager für Zehntausende oppositioneller politischer Gefangener und regiert seit 1991, bei den letzten Parlamentswahlen 2010 mit einer angeblichen Wahlmehrheit von 99,96 Prozent für das Regierungsbündnis, allein für die Partei Zenawis 91,2 Prozent – für 126 Millionen Euro verkaufte Deutschland 2009 nach Äthiopien; der bloßen Summe nach nicht unbedingt viel, es ist aber auch eines der ärmsten Länder der Welt. Oder natürlich China: 2009 haben wir für 37,2 Milliarden Euro exportiert und für 56,7 Milliarden Euro von rechtlosen chinesischen Hungerlöhnern produzierte Waren eingeführt. Da tolerieren wir offensichtlich nicht nur die Intoleranz, sondern bereiten ihr sogar den Boden. Vorm jüngsten Gericht unserer selbst verfassten Werteordnung werden wir uns einmal nicht nur wegen unterlassener Hilfeleistung, sondern zudem wegen Beihilfe verantworten müssen.


Zum Schornstein hinausgejagt

Februar 2011 – Täglich verbrennen wir rund 14,2 Milliarden Liter Erdöl. Was soll man da noch viel mehr dazu sagen. Wenn einem allein angesichts der schieren Größe der Zahl die unweigerliche Endlichkeit dieser natürlichen Ressource nicht klar wird, wie sollte man es dann noch veranschaulichen. Mit dem, was pro Jahr verbraucht wird? 5.182.111.384.531 Liter! Tendenz steigend.

Wir sind aber auch Milliarden Menschen. Würde jeder OECD-Bürger am Tag nur einen einzigen Liter Öl sparen, könnten wir den Weltverbrauch um gut acht Prozent reduzieren. Dazu müssten wir nur zum Beispiel ungefähr zehn Kilometer weniger mit dem Auto fahren. Wir haben also selbst einiges in der Hand.


RTL-Leitkultur

Januar 2011 – 7,68 Millionen Deutsche haben sich am 26. Januar Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!, landläufig Das Dschungelcamp, angesehen. 8,66 Millionen Zuschauer waren in der aktuellen fünften Staffel dieses Formats bisher die Spitzenquote. Tag für Tag ergötzt sich jeder zehnte Deutsche an perversen Bloßstellungen abgetakelter Sternchen und öffentlichkeitssüchtiger Ex- und Möchte-gern-Promis. In Kakerlaken suhlen, mit Aalen baden, in Spinnen, Skorpionen (?), Schlangen oder Ratten wühlen, unter Fischinnereien und Fischabfälle tauchen, mit Schleim duschen oder lebendige Regenwürmer, Grillen und Mehlwürmer, Krokodils-, Schafs- und Fischaugen, einen Krokodil-Penis (am Stil), eine Kamel-Anus und Hirsch-Hoden essen und dazu gequirlte Maden und Mehlwürmer oder vermatschte Tiergenitalien, pürierte Emu-Leber und Rattenhirn trinken. Das ist, sein Sie mir nicht böse, einfach zum Kotzen – nicht diese überdrehten Persiflagen kindischer Mutproben, sondern die Masse der begeisterten Zuseher.

Wie weit sind wir noch entfernt, dass wir für den Fernseh-Thrill zur bloßen Unterhaltung das Recht auf körperliche Unversehrtheit ganz aufkündigen? Wie lange dauert es noch, bis die furchteinflößenden Utopien der siebziger und achtziger Jahre, wie in Running Man oder Das Millionenspiel verfilmt, wirklich werden? Wann brauchen wir Blut, um noch werbeträchtig Quote zu machen?

Der Vergleich mit den Tierhatzen und Gladiatorenkämpfen in den römischen Zirkusspielen drängt sich unweigerlich auf. Panem et circenses – Brot und Spiele – meinte Juvenal damals dazu und prangerte damit die Entpolitisierung der Gesellschaft an, die nur noch satt und hinreichend kurzweilig abgelenkt sein wollte. Brot und Spiele, bedingungslose soziale Vollkaskoversicherung und Privatfernsehen?! So unlauter trivial dieser Vergleich erscheinen mag, so oft wird mir doch eben dieses Gefühl gerade von Verantwortungs- und Leistungsträgern und durchaus tiefsinnig Denkenden bestätigt. Ein Grauen für jeden, der unsere Zukunft in Subsidiarität und aktiver Zivilgesellschaft wähnt.


Haarscharf

Januar 2011 – Schneepflug-Komfort-Schutz, mit Mineralöl verbesserte Gleitfähigkeit des Lubrastrip, Präzisionstrimmer, pulsierende Mikroimpulse, Elastomer-ummantelter Griff, 5-Klingen-Technologie – nein, das sind keine Einzelheiten der quälenden Tötungsapparatur In der Strafkolonie von Kafka. Tatsächlich ist hier die Rede von der tragischen Evolution der Nassrasur. Für das, wofür früher nicht viel mehr als eine scharfe Klinge und etwas Geschick bei der Handhabung von Nöten waren, braucht es heute „30 individuell aufeinander abgestimmte Komponenten“, „acht Jahre intensiver labortechnischer und klinischer Forschung“, 20 Patente und eine Batterie. Das nutzlose Ende einer noblen Kultur. Aftershave brennt heute auch nicht mehr – ich empfinde das als Verlust.


Also lautet ein Beschluss

Januar 2011 – Auch verbeamtete Lehrer dürfen streiken, das hat das Düsseldorfer Verwaltungsgericht mit Bezug auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entschieden. In der weiteren Begründung hieß es außerdem, dass Lehrer „nicht zum beamtenrechtlichen Kernbereich“ gehören würden!? Aha!?

Nun, lässt man einmal außen vor, dass sich aus der Verbeamtung eigentlich eine besondere Verpflichtetheit ableiten lassen sollte, bietet der Beamtenstatus doch ganz bewusst Schutzrechte, die eigentlich in hohem Maße Loyalität gegenüber dem Dienstherrn – sprich dem Staat, sprich unserem Gemeinwesen – gebieten (es wird ja niemand gezwungen Beamter zu werden, oder?). Und auch einmal ganz abgesehen davon, dass es sich Lehrer ganz gut einteilen könnten, ihr Menschenrecht auf Koalitionsfreiheit in der unterrichtsfreien Zeit wahrzunehmen (und nicht mit Warnstreiks während der Schulzeit ganz bewusst ihre persönlichen Interessen zu Lasten der Gesellschaft vertreten müssten). Das alles einmal beiseite, könnte einen das Urteil ja hoffnungsvoll stimmen. Die Richter sind offenbar überzeugt, dass Lehrer nicht wirklich Beamte sind. Dann sollten sie es auch nicht sein.

Die Notwendigkeit einer halbwegs aufgeklärten Bevölkerung für die demokratische Verfassung einer Gesellschaft genauso wie die Bedeutung von Bildung für das Wohlergehen der Bundesrepublik Deutschland würden wohl durchaus einen hoheitlichen Auftrag begründen. Bei dem heutigen Wissen über die Rolle des frühkindlichen Lernens, müsste dann aber längst auch den Erzieherinnen in Kindertagesstätten die Beamtenlaufbahn eröffnet werden.
Insbesondere aber verführt der Beamtenstatus gepaart mit der Unabhängigkeit in der Ausübung nicht wenige im Lehrerberuf zu arg eigenbrötlerischen Zieldefinitionen und Arbeitsweisen und eben gerade zum Drücken vor der Verpflichtetheit in den unterschiedlichsten Facetten. Diejenigen stellen die Idee eines Beamten als Diener des Volkes geradezu auf den Kopf. Ja, ja das lässt sich auch über andere Beamte klagen, hat aber selten so weitreichende Folgen wie bei Lehrern. Es macht eben einen Unterschied, ob man einen Antrag auf Zuteilung einer Mülltonne oder ein Kind unwillig bearbeitet. Und von fahrlässiger Nachlässigkeit bis zum vorsätzlichen Unwillen reichen die möglichen und tatsächlichen Vertuschungen unter dem Deckmantel des Beamtentums – vom Unterricht per schier endloser Aneinanderreihung unkommentierter Videos bis zur Arbeitsverweigerung durch vorgeschützte, nicht objektiv diagnostizierbare Erkrankungen.

Um die anderen, die besonders engagierten Lehrer und auch die, die ihren Beruf einfach nur ernst nehmen, mache ich mir dabei keine Sorgen – denen werden sich ohne die starren Laufbahn- und Besoldungsregelungen der Beamten wohl eher Chancen eröffnen, als dass ihnen daraus Risiken erwachsen.


Der Berg schweigt

Januar 2011 – Der vordergründige Inbegriff des sanften Wintertourismus, nur das durchpflügen, was man sich vorher aus eigener Kraft und durch Ausdauer erkämpft hat: Tourenskigehen. Ein faires Miteinander von Mensch und Berg – schafft der Mensch es, den Berg ein Stück weit zu bezwingen, sei ihm auch das Recht, die Natur für sich zu nutzen, zugebilligt. So fragwürdig aber an sich schon eine Ableitung von Rechten aus solch vermeintlichen Leistungen ist – wer würde zum Beispiel einem Vielfahrer allein wegen seiner Kilometerleistung irgendwelche Verpflichtungen der Straßenverkehrsordnung erlassen – pervertiert es sich spätestens dann, wenn dieser Anspruch massenhaft wird.

Den Kolben bei Oberammergau kann man nun auf künstlich beschneiten Wegen und mit Untertunnelung der (Liftfahrer)piste für das kollisionsfreie Nebeneinander erklimmen. Wenn der Trend so weiter geht, wird auch bald die Skihalle im wüsten Dubai über einen neuen Anbau nachdenken müssen.


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