Gesundheit

Das alte Neue aus Absurdistan in der Kategorie Gesundheit - 22 Beiträge


Unlautere Heilsversprechen

April 2018 - DHU – Deutsche Homöopathie-Union – klingt nach Verband, ist aber Unternehmen (DHU-Arzneimittel GmbH & Co. KG, Karlsruhe, nach eigenen Angaben „Deutschlands größter Hersteller homöopathischer Einzelmittel und Schüßler-Salze“). Die DHU hat gerade eine Kampagne gestartet: Unter Hashtag #MachAuchDuMit und dem Slogan „Homöopathie. Natürlich. Meine Entscheidung!“ sucht das Unternehmen persönliche Zeugnisse der Wirksamkeit von Globuli. Tja, wer keine Beweise hat, braucht Zeugen. Denn mit der Faktenlage schaut es naturgemäß dünn aus: „Unsere Initiative schafft Transparenz und stellt die Homöopathie hinsichtlich Fakten und Erfolge realistisch dar. Denn eines ist klar: Millionen Menschen haben gute Erfahrung mit der Homöopathie gemacht.“ Und das war es dann auch schon mit den Tatsachen. Das ist dann doch eher von der Qualität: Scheiße schmeckt gut, Millionen Fliegen können nicht irren. Da brauch ich erst einmal einen Schnaps, um das zu verdauen. Diese „Überzeugung“ teile ich vermutlich auch mit Unzähligen.

Ähnlich perfide der zweite Argumentationsstrang: „Zum anderen setzen wir uns für den Erhalt von Therapievielfalt und Therapiefreiheit in der Medizin ein. Jeder sollte sich für Arzneimittel und Methode seiner Wahl entscheiden dürfen!“ Richtig, jeder hat das Recht sich selbst für blöd zu verkaufen. Werbung sollte allerdings nicht unlauter sein. Ungeprüfte Geschichten von „Nutzern“
suggerieren Wirkungsnachweise für spezielle Anwendungsgebiete, was als Werbung nach dem Heilmittelwerbegesetz verboten wäre, wenn die tatsächliche Wirkung nicht belegbar ist. Da sucht man sein Heil in netten Geschichtchen.


Eingeschläfert statt aufgeweckt

Februar 2017 – Als Verlust der Angemessenheit des Verhaltens für ein gedeihliches Fortbestehen habe ich Dekadenz 2009 im gleichnamigen Buch definiert. Eine allgemeine Begriffsabgrenzung genauso wie die Beschreibung der herrschenden Verhältnisse. Wohlfahrt ergibt sich nicht von selbst. Sie muss geschaffen werden. Und sie muss stetig aufs Neue geschaffen werden. Vieles deutet aber darauf hin, dass wir inzwischen vielfach zu träge und zu satt geworden sind, etwas zu schaffen. Ja, überhaupt etwas schaffen zu wollen. Kaum ein anderer Bereich als unser Umgang mit Kindern und deren Erziehung kann da besser als Indikator dienen. Die nächsten Generationen sind nachgerade der Inbegriff von Zukunftsfähigkeit. Erschreckend, wie wir da Chancen verschlafen (lassen).

In den letzten Tagen gingen einige Schlagzeilen durch die Medien, dass ein Trend zu Schlafmitteln für Kinder auszumachen wäre. Harte empirische Fakten fehlen zwar offenbar noch, allerdings verdichten sich wohl die Indizien. Die bayerische Gesundheitsministerin und Ärztin Melanie Huml spricht aktuell davon, dass diese gefährliche Entwicklung von Kinderärzten und Wissenschaftlern beobachtet wird.

Genaue Datensammlungen werden erschwert, da viele Produkte rezeptfrei erhältlich sind. Zum Beispiel „Sandrin für Kinder“ oder das Säftchen mit dem sprechenden Namen „Sedaplus“. Ebenso zahlreiche Angebote aus der alternativfaktischen Medizin wie die Bachblüten „Kleines Träumerle“, anthroposophische „Passiflora Kinderzäpfchen“ oder homöopathisch „Calmy Hevert Globuli“ und „Kids Relief Beruhigungs-Sirup“. Zudem werden viele Erkältungsmittel mit sedierenden Wirkstoffen ebenfalls rezeptfrei angeboten. Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin geht davon aus, dass dies allgemein bekannt ist, und die Produkte gezielt zum Ruhigstellen eingesetzt werden.

Ein solcher Trend zu mehr Schlafmitteln bei Kindern ist allein schon deswegen bedenklich, weil dem gesunden Menschenverstand im Allgemeinen und dem fürsorgliche Elterngewissen im Speziellen glasklar sein müsste, dass alles was wirkt auch potenziell nebenwirkt beziehungsweise jede Wirkung auch unerwünschte Nebenfolgen haben kann. Noch einmal Huml dazu: „Viele dieser Mittel enthalten Wirkstoffe, die in den natürlichen kindlichen Schlaf-Wach-Rhythmus eingreifen. Damit ist die optimale Erholung der Kinder gestört, die für das Lernen und die psychische Gesundheit sehr wichtig ist.“ In der Kindermedizin wird in diesem Zusammenhang vor Atmungsstörungen gewarnt und auch vor gegenteiligen, paradoxen Wirkungen wie Unruhe bis hin zu Halluzinationen.

Tiefergehende kulturkritische Sorgen drängen sich einem aber auf, wenn man sich ein paar Gedanken über die Ursachen solcher elterlichen Anwandlungen macht. Reparaturmentalität ist da das eine. Richten lassen, statt eigenverantwortlich vorbeugen. Die Delegation der Selbstbestimmtheit auf konsumierbare Produkte. Man könnte ja, was Schlafprobleme von Kindern betrifft, auch Milch mit Honig machen, eine Geschichte vorlesen, das Zimmer einmal kräftig durchlüften und dabei noch ein wenig gemeinsam in die Sterne schauen oder ein Schlaflied singen. Das klappt nicht immer, ist aber allemal wirkkräftiger als der Placebo-Effekt von ein paar schnell eingeworfenen Globuli.

Das andere ist die dauermediale Ruhigstellung tagsüber. Wer den ganzen Tag mehr und mehr bewegungslos vor Bildschirmmedien abgestellt wird, kann ja abends gar nicht richtig müde sein – körperlich kaum beansprucht und im Kopf ganz wirr von zahllosen genauso eindimensionalen wie unabänderbaren Eindrücken. Die nach meinem Empfinden Allgegenwart von Bildschirmen an den Kopfstützen in PKWs zeugen von der Durchdringung der Kinderwelt mit elektronischen Medien.

Laut der miniKIM-Studie 2014 ist wenigstens mehrmals die Woche Fernsehen, wenn nicht täglich, bei Dreiviertel der Vorschulkindern Usus. Bei den Jüngeren mit zwei bis drei Jahren im Schnitt eine halbe Stunde, bei den Älteren schon fast eine ganze. Nachdem es ja offensichtlich immer noch ein paar Familien gibt, die von Fernsehen in dem Alter gar nichts halten, muss wohl eine ganz erkleckliche Anzahl von Vorschulkindern schon täglich zwei Stunden vor der Glotze sitzen, um auf diesen Durchschnitt zu kommen. Plus PC-, Konsole-, Tablet- oder Smartphone-Spiele und -Filme. In der Statistik nur mit wenigen Minuten kaum ausschlaggebend. In der Realität sehe ich zum Beispiel in Gaststätten immer mehr Familien, die ihrem Nachwuchs das Smartphone in die Hand drücken, damit es sich still beschäftigt.
Insgesamt kann man in Wirklichkeit von erheblich höheren Mediennutzungszeiten der Kinder ausgehen, denn die empirischen Daten sind durch Befragungen der Haupterzieher erhoben. Die werden in ihrem Selbstverständnis als gute Eltern die Zeiten ihrer Kinder vor irgendwelchen Bildschirmen eher unter- als überschätzen. Und in den immer häufiger getrennten Erziehungssituationen wird es beim „Nebenerzieher“ vermutlich oft auch noch mal ganz anders ausschauen.

Die liebste Aktivität sind Bildschirmmedien für Kinder aber keineswegs. Draußen spielen steht da ganz an der Spitze, vor drinnen spielen und Buch anschauen/vorlesen. Die Kinder würden also wohl schon wissen, was gut für sie ist. Man müsste sie nur lassen. Wir bevorzugen aber zunehmend, eine sedierte Generation großzuziehen. Tagsüber mit Medien und nachts medikamentös.


Geteiltes Leid

Dezember 2015 – Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen hat unlängst eine „Teilkrankschreibung“ vorgeschlagen. Bei vielen Erkrankungen ist eine Teilzeitarbeit fraglos zumutbar, bei so manchem Gebrechen ist ein wenig Arbeit vermutlich sogar heilsamer, als wenn einem zuhause die Decke auf den Kopf fällt. Bei langwährenden Krankheiten wäre dadurch zudem eine flexible, sukzessive Rückkehr zum vollwertigen Arbeitsleben möglich, ohne die komplexe Abstimmung eines Wiedereingliederungsplans. Gerade für die immer häufiger auftretenden psychischen Erkrankungen mit langen Fehlzeiten in manchen Fällen vielleicht ein schon aus sich allein heraus wirkender Beitrag zur Heilung. Und dann ganz nebenbei ein wenig Eindämmung der explodierenden Kosten des Gesundheitswesens. Da gibt es sicher Für und Wider, aber das klingt alles sehr vernünftig. Die Alles-oder-nichts-Regel bei Krankschreibungen erschien einem ja schon immer als eine eher lebensfremde Bestimmung (an die sich im Privaten tatsächlich auch niemand hält und man dort auch bei Krankheit den Umständen entsprechend Hausarbeiten erledigt oder Freizeitbeschäftigungen nachgeht). Für die selbsternannten Hüter des sozialen Versicherungsfriedens, den Sozialverband VdK Deutschland e.V., ist das allerdings – es war nicht anders zu erwarten – ein Dorn im Auge. „Geradezu alarmiert“ beschreibt der Bayerische Rundfunk die VdK-Präsidentin angesichts dieses Vorschlags. Sie befürchtet Druck auf langfristig Erkrankte und malt als Schreckensszenario aus, dass der Arbeitnehmer dann mit seinem Arzt über die Einsatzfähigkeit verhandeln müsste. Absurd, als ob dieses etwas differenziertere Ermessen einem Arzt nicht zuzutrauen wäre. Vernunft hin oder her, der VdK lehnt den Vorschlag kompromisslos ab.

Vielleicht sollten die sozialverbundenen Damen und Herren mal ein wenig in den Regeln des heiligen Benedikt für das gedeihliche Zusammenleben in einem Kloster blättern. Dort steht im 36. Kapitel „Die kranken Brüder“ auch zuallererst, dass die Sorge für die Kranken über allem stehen muss. Man soll ihnen so dienen, als wären sie Christus. Dort sind aber auch die Kranken aufgefordert, „ihre Brüder, die ihnen dienen, nicht durch übertriebene Ansprüche traurig zu machen“ – mein lieber VdK, denk daran, dass alle Krankenkassenbeiträge immer erst auch einmal erwirtschaftet werden müssen. Außerdem verschreibt Benedikt den Mönchen im 48. Kapitel über „Die Ordnung für Handarbeit und Lesung“: „Kranken oder empfindlichen Brüdern werde eine passende Beschäftigung oder ein geeignetes Handwerk zugewiesen; sie sollen nicht müßig sein, aber auch nicht durch allzu große Last der Arbeit erdrückt oder sogar fortgetrieben werden.“ Teilkrankschreibung ist eine nächstenliebende Selbstverständlichkeit eines achtsamen Miteinanders.


Der Psychoreport

November 2015 – Der Psychoreport, das ist kein Filmverschnitt der 70er-/80er-Jahre, sondern die aktuelle Analyse der Krankschreibungen durch die DAK-Gesundheit. "Deutschland braucht Therapie" ist der Untertitel dieses Berichts. Die psychischen Erkrankungen boomen – jede sechste Krankschreibung geht bereits auf dieses Konto, jährlich über sechs Millionen Krankheitstage sind das, fast zwei Millionen Betroffene; Tendenz: unverändert steiles Wachstum. Müssen wir jetzt bald alle ab auf die Couch? Oder ist es doch nur eine Zeitgeisteskrankheit?
Wenigstens zwischen den Zeilen des Psychoreports 2015 wird deutlich, dass die Inflation der psychischen Erkrankungen in Deutschland therapiegetrieben ist. So erklärt etwa ein DAK-Experte die seltsame, signifikante Ungleichverteilung der Diagnosen zwischen Stadt und Land damit: „Nicht zuletzt korreliert die Inanspruchnahme von Behandlungen auch mit der Dichte des Angebotes“. Epidemiologen der Universitätsklinik Münster haben 2014 in einer Metastudie umgekehrt festgestellt: "Die unterstellte Zunahme psychischer Störungen aufgrund des sozialen Wandels kann nicht bestätigt werden." Die BKK spricht in ihrem Gesundheitsreport 2014 dementsprechend von „Überdiagnostizierung“.
Tatsächlich fußt der Psychoboom auf einem sich selbst erhaltenden Regelkreis zwischen der Ausweitung der Definitionen von Krankheitszuständen und wachsenden Therapie- und Behandlungsangeboten. Immer mehr Gemütszustände, die noch vor Jahr und Tag als normal galten, werden heute für behandlungswürdig krank erklärt. Das ist besonders absurd, nachdem insgesamt die Lebensumstände – z.B. Arbeitsbelastung, Freizeit oder die physische Gesundheit – immer weniger belastend sind.
Wir haben uns selbst in einen Teufelskreis manövriert. Befeuert noch von der zunehmenden medialen Präsenz, was wiederum die Therapeuten in ihrer vermeintlichen Notwendigkeit bestätigt und zugleich hypochondrischen Selbstdiagnosen Vorschub leistet. Das heißt aber auch, dass sich viele am eigenen Schopf aus diesem Teufelskreis wieder rausziehen könnten. Mündigkeit und Eigenverantwortung versprechen da echte Heilungschancen. Man muss nur an die eigene Normalität glauben, um schlagartig zu gesunden. Und man darf eben nicht für jede Laus, die einem über die Leber läuft, einen professionellen Verantwortungsabnehmer suchen. Der US-amerikanische Psychiater Allen Frances stellt dazu treffend fest: „Die unvermeidlichen Alltagsprobleme des Lebens hingegen überlassen wir am besten unserer angeborenen Widerstandskraft und der heilenden Wirkung der Zeit.“


Mal im Ernst

März 2015 – Lassen Sie sich bloß kein X für ein Y aufmalen. Und schon gar nicht ein S. Sonst wird aus der Kanalisierung positiver Energie eine Blockade oder gar die Umkehrung ins Negative. Also jedenfalls, wenn ich das mit der neuen Homöopathie halbwegs richtig verstanden habe. Da fallen jetzt endlich die sinnlosen Zuckerkügelchen weg, geheilt wird nur noch durch das Malen von Zeichen auf den Körper – Malen gegen Qualen. Toll, dann spart man sich die teuren Globuli. Dafür kann man sich dann locker die Körbler®-Ratgeber, -Universalrute, -Symbolkarten oder das Körbler®-Himalaya-Experimentierwasser kaufen. Wozu? Lassen wir die Experten von natur-wissen.com zu Wort kommen: „In der Neuen Homöopathie werden die Körbler-Zeichen zum einen am Körper, zum Beispiel an speziellen Akupunkturpunkten, aufgemalt, um [mit der Universalrute] getestete Disbalancen auszugleichen. Zum anderen nutzt man in der Neuen Homöopathie das Körbler’sche Umkehrprinzip der Systeminformation auf der emotionalen und mentalen Ebene, wenn man mithilfe der Sinus-Welle emotionale Belastungen, Traumata oder mentale Blockaden umschreibt. Dabei werden negativ testende Schlüssel- oder Reizworte und die damit verbundenen belastenden Gefühle aufgeschrieben, um sodann mit dem passenden Umkehr-Zeichen der Neuen Homöopathie übermalt zu werden. Die so entstandene Umkehrinformation wird anschließend in Verbindung mit einer durch Y-psilon verstärkten Lösungs-Affirmation vom Betroffenen selbst auf ein Glas Wasser geprägt. So lässt sich ganz einfach ein informiertes ‚Heil‘-Wasser herstellen, dass [sic] zu 100% auf die individuelle Situation angepasst ist.“ Noch Fragen? Wer Körbler ist? Erich Körbler ist ein ehemaliger Elektriker der österreichischen Post (www.psiram.com/ge/index.php/Erich_Körbler). Und er ist der Erfinder der „Neuen Homöopathie“ und weiterer Verfahren, um die Menschheit für dumm zu verkaufen. Energieaufbaubetttücher, Elektrosmog-Strichcodes, Baumblüten-Essenzen oder die Körbler®-Klosterbürste mit Stil sichern seinen Jüngern das Geschäft. Das ist das A und O der Esoterik.


Das hab ich gefressen

Januar 2015 – „Gegessen wird, was auf den Tisch kommt“, hieß es in meiner Kindheit jedes Mal, wenn ich versuchte die Tomatensuppe mit Reis zu verweigern. Ansonsten musste ich das selten hören. Ich war ein Kind, das in fremden Haushalten auf die freundliche Frage der Gastgeber nach Essensvorlieben stets als Allesfresser vorgestellt wurde. Nachdem die Geschichte mit dem in der Tomatensuppe bis zum Aufquellen ertränkten Reis bei uns zu Hause wohl ziemlich einzigartig war, war das auswärts nicht der Rede wert. Die Frage, „was hättest du denn gerne zum Essen“, wurde von meiner Mutter also immer vorauseilend in meinem Namen beantwortet: „Egal, der Gerd ist Allesfresser.“ So was gibt es heute nicht mehr. Es bleibt keine Zeit mehr, nach Vorlieben zu fragen. Die Klärung von Abneigungen, Empfindlichkeiten, Unverträglichkeiten und Unbekömmlichkeiten bis zu Allergien und Intoleranzen dauert zu lange. Und vor allem dann erst noch die Erkundung der Essensreligionszugehörigkeit: Freeganer, Flexitarier, Vegetarier ganz einfach oder die Ovo- oder Lacto-Variante, Frutarier, Pescetarier, Rohkostler oder so sakrosankt vegan, dass man sich sogar die Peitsche für durchschlagend erotische Stunden bei KinkyVegan aus Kunstleder handfertigen lässt. Unvermeidlich dass es da zur Gegenreformation kommen musste. Paleo heißt das jüngste Abendmahl. Ernährung, wie man sich die Steinzeit vorstellt. Fisch und Fleisch, Obst und Gemüse, Nüsse und Samen, Eier. Menschliche Kulturerrungenschaften sind verpönt. Kein Zucker und Salz, keine Getreide- oder Milchprodukte. Von Bier und Wein ist weniger die Rede. Wahrscheinlich lässt sich die eigene Borniertheit nicht nüchtern ertragen. Oder man braucht ab und wann einen Schluck, um die Diskrepanz zwischen fehlenden wissenschaftlichen Belegen und ausufernder Ratgeber-Literatur auszublenden. Okay, zugegeben, es hat auch seine Vorteile: Reis steht auf dem Steinzeit-Index, kann dementsprechend gar nicht erst in die Suppe kommen. Aber ich ecke auch sonst als Alles-außer-Reis-in-der-Tomatensuppenkasper kaum an. Ein wenig urzeitlich fühlt man sich als Allesfresser aber inzwischen schon. So dinomäßig: recht gesund, aber trotzdem eine aussterbende Rasse.


Und die Mutter blicket stumm ...

... auf dem ganzen Tisch herum. – April 2013 – Laut dem aktuellen Arztreport der Barmer GEK ist die Diagnose der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zwischen 2006 und 2011 um 42 Prozent gestiegen. Entsprechend den Zahlen der Bundesärztekammer haben im gleichen Zeitraum die Ärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -Psychotherapie um 33 Prozent zugenommen – von 2004 bis 2011 war es ein Zuwachs um 165 Prozent. Ein Schelm, wer da nach Henne oder Ei fragt. Der Verdacht, dass diese erstaunliche epidemische Inflation der ADHS ihren Ursprung in einem selbsterhaltenden Regelkreis aus unterlassener Erziehungsleistung und willfähriger, weil unterhaltssichernder Diagnostik hat, liegt nahe. Frau Doktor, wir lassen dem Buben doch eh schon alles durchgehen und jetzt strengt er sich nicht mal in der Schule an, der hat doch bestimmt ADHS, oder!

In Würzburg sollen 18,8 Prozent aller zehn- bis zwölfjährigen Jungen – also jeder fünfte! – und 8,8 Prozent der gleichaltrigen Mädchen ADHS haben. Fast doppelt so viele wie im Bundesdurchschnitt (und der ist schon Irrsinn, indem wir bundesweit jeden achten Jungen wegen seiner Lebhaftigkeit für behandlungswürdig krank erklären). Würzburg ist „ADHS-Hauptstadt“ titelt die Mainpost (30.1.13). Auf den zweiten Blick kein Wunder: Würzburg hat eine Universitätsklinik mit ADHS-Schwerpunkt und in Unterfranken praktizieren deutlich mehr Kinderpsychiater als andernorts. Die wollen aber ja genauso gut leben, wie die Kollegen in weniger versorgten Regionen.

Natürlich kann, darf und soll man nicht alles und jeden über einen Kamm scheren und natürlich stehen hinter der Statistik Einzelfälle mit höchst unterschiedlichen Umständen, Symptomen und Indikationen – also bitte jetzt nicht der obligatorische Aufschrei, das jemand jemanden kennt, dessen Kind aber wirklich ADHS hat. Weiß ich, kenne ich auch, sogar richtig krasse Fälle (und selbst da ist zumindest die Mitschuld des Erziehungsversagens offensichtlich).

Schaut man sich aber einzelfallunvoreingenommen das rapide Wachstum der Fallzahlen an – entsprechend denen man bereits in wenigen Jahren von einer Generation ADHS sprechen müsste – dann fallen einem wenig andere Gründe ein als die grassierende Verweigerung von Erziehung und die Abwälzung der Erziehungsverantwortung auf Therapie und Medikamente (auch wenn vordergründig gerne überbordender Bildschirmmedienkonsum, zu wenig Draußenspiel, Bewegungsmangel et cetera als Ursachen angeführt werden – wer anderes als die Eltern trägt denn dafür die Verantwortung).

Die FAZ zitierte im Beitrag Wo die wilden Kerle wohnten am 16.2.2012 die Leiterin der Kinderklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité, Ulrike Lehmkuhl, damit, dass sie bei neun von zehn Kindern, die zu ihr mit einer ADHS-Diagnose geschickt werden, keine Verhaltensstörungen oder psychische Erkrankungen finden kann. Selbst der US-amerikanische Kinderpsychiater Leon Eisenberg, der vor Jahrzehnten ADHS zuerst als Krankheit kategorisierte und mit Medikamenten behandelte, sprach später von einer fabrizierten Krankheit und dass sowohl die Ursachen von entsprechendem Verhalten als auch die Bewältigung im sozialen Umfeld zu suchen sind.


G-Hilfe

April 2012 – Endlich ist er entdeckt, der sagenumwobene G-Punkt. Der vorgeblich erotische An-Schalter der Frau. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt, dass just der G-Punkt-Finder auch gleich dessen künstliche Vergrößerung im seinem schönheitsoperativen Repertoire hat. Kommt aus den USA, wird aber auch in Deutschland bereits zahlreich angeboten. Das ist allerdings nur die Spitze des Eisbergs der aktuellen Trends zur Manipulation des Faktischen auch im Intimbereich. Darunter tummelt sich inzwischen allerhand: Vaginalstraffung, Schamlippen oder Klitoris verkleinern, Venushügelfett absaugen und Anal bleaching (Hautaufhellung des Anus). Übrigens bei den Männern liegt auf Platz sieben der beliebtesten schönheitschirurgischen Eingriffe die Penisvergrößerung. Porn to be alive.


Mit Haut ohne Haar

November 2011 – Beim EKG blickt die MTA erstaunt auf meine, wenn auch nicht viel, aber doch behaarte Brust, die sich dann auch erwartungsgemäß widerborstig gegen die Haftung der Elektroden sträubt; das hätte sie nun wirklich schon länger nicht mehr gehabt. Mit unrasiertem Oberkörper gehöre ich offenbar zu einer aussterbenden Rasse. Selbst im Intimbereich rasieren oder enthaaren sich immer mehr Männer – „ein glatt rasierter Unterleib ist bei Jugendlichen längst Mainstream“, so ein Sexualpädagoge von pro familia. 42 Prozent der männlichen Bravo-Leser rasieren sich regelmäßig die Schamhaare (berichtete die ZEIT schon 2009), rund die Hälfte der 18- bis 25-jährigen Männer meint die Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie des Universitätsklinikums Leipzig, die „Schamregion unterliegt fortan einem Gestaltungsimperativ“. Dass dann bei den Jungs auch die Achselhaare weg müssen, versteht sich – die österreichische Krone-Zeitung hat gefragt: 58 Prozent der unter 30-Jährigen waren es. Hygienische Begründungen gibt es für all das im Mitteleuropa des 21. Jahrhunderts natürlich nicht. Es geht allein um eitlen Schein. In diesem wachsenden männlichen Enthaarungsfetischismus changiert Schönheitsbewusstsein gefährlich in Richtung Narzissmus – die unverhältnismäßig hohe Selbstbeachtung. Die wachsende Konzentration auf sich selbst und da nur auf die Äußerlichkeiten. Der mythologische Narziss ertrank in seiner Selbstverliebtheit. Das deutsche Volksmärchen hat solcherlei zerstörerischen Selbstwahn dann vornehmlich aufs weibliche Geschlecht projiziert, „Spieglein, Spieglein an der Wand …“. Zu Unrecht wie sich heute zeigt.


Fliegenfalle

September 2011 – Auf seiner Webpage bietet er ein Verzeichnis ausgewählter Anbieter für „Astrologie, Energiearbeit, Heiler, Heilpraktiker, Lebensbegleitung und Numerologie“ – letzteres die Kunst der Weissagung aus der Symbolik von Zahlen, zum Beispiel in den Ziffern des Geburtsdatums. Drumherum blinkt Werbung für kosmische Jungbrunnen, gespeicherte Wort-Informationen auf Edelsteinwasser zur Früherkennung und Ausleitung von Störimpulsen und zur Stabilisierung der Organ-Energien in den äußeren Energiefeldern (Auswahl von 204 Testern für 4.920,- Euro zuzüglich Mehrwertsteuer), Ausbildungsseminare zum Schöpfer Ihres Lebens und spirituellen Coach (2.800,- Euro), Algentabletten zur Krebszellenabwehr (nehme ich zumindest an, wörtlich heißt es beim Anbieter „Antikrebszellenabwehr“) oder die SeelenTor-Essenz,


ein Auraspray zur Harmonisierung der Aura, sehen Sie selbst (die Aura links ohne, rechts mit der SeelenTor-Essenz).

Seine eigene Gebetsessenz, die 95ml-Flasche zu 39,95 Euro, ein unspezifiziertes „Bioregulat“, für das er über der Abfüllmaschine Gebete gesprochen hat, ist inzwischen, nach massiver Medienkritik, vom Markt verschwunden. Beim „Starnberger SeelenTor Fest für die Seele 2011“ ist er der Top-Act neben Erich von Däniken, der Schlagersängerin und Esoterikerin Penny McLean (Alltag mit Schutzgeistern) und Kristallkind Lena. Bei seinem eigenen jährlichen Kongress „Wörishofener Herbst“ tummeln sich Krebsärzte die mit Wasser heilen, Schamanen, Schutzgeister- und Engelsichtige, Energieheiler, der den Lesern dieser Seiten bereits ausführlich vorgestellte Wunderglotzer Braco (angefragt), Wasserbeleber, Quantenheiler, Gesundbeter etc. etc. neben dem Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche Nikolaus Schneider, der dieses esoterische Treiben einer seiner Hirten ostentativ durch die Zusage seiner Teilnahme absegnet (auch wenn er nach öffentlichem Rumoren über das Wörishofener „Spinner-Treffen“ dann scheinbar doch kalte Füße bekommen hat – bis vor kurzem stand er aber noch im Programm für 2011).

Das wäre ja nun alles nicht einmal mehr der Rede wert – hab ich mich doch über diese billigen Scharlatanerien und ihre wachsende leichtgläubige Jüngerschaft bereits mehrfach ausgelassen – wenn es sich nicht bei dem Beschriebenen um einen Geistlichen handeln würde, einen berühmten dazu: den ehemals öffentlich-rechtlichen Fernsehpfarrer Jürgen Fliege. Der – das muss man angesichts solch hanebüchenen Blödsinns, siehe oben, einfach unterstellen – viel weniger glaubt, als er uns glauben machen will, dafür aber ziemlich genau weiß, was er tut. Warum? Warum wohl? Ruhmsucht und Gier, wie heute vielerorts in den wuchernden Maßlosigkeiten unserer Gesellschaft. Heuschreckenspiritualismus quasi.

Selber denken, ist das einzige, was dagegen hilft. Und sich nicht blenden lassen, weder vom Ornat noch von kreideweichen Reden, und wenn sie auch im Fernsehen kommen.


Er schaut dich an

Juli 2011 – Manchmal ist es doch zu etwas gut, wenn man BILD liest. Hätte ich sonst je etwas von Braco – sprich „Brath-zoh“ – erfahren. Braco der Wunder-, der Geistheiler (was er tunlichst vermeidet, von sich selbst zu behaupten – ausführlich lässt er allerdings darüber berichten, dass andere ihn für einen solchen halten). Braco, der sich einfach ziemlich belämmert guckend, vollkommen stumm auf Bühnen stellt. Und die Leute kommen, um sich gesund starren zu lassen. Kein gezielter Augenkontakt, sondern so ganz allgemeines Herumgeglotze. Man braucht quasi nur von seinem Blick gestreift zu werden. Für fünf Euro (in den USA acht Dollar), keine zehn Minuten. Wer selber keine Zeit hat, kann sein Foto anstarren lassen. BILD war jüngst beim Anglotzen in Esslingen dabei. Da kamen 4.000. In München waren es im Februar angeblich 6.700. Wem das live-Starren nicht genügt, kann sich danach noch Braco-DVDs, Braco-Bücher oder ein Braco-Foto (80 Euro) kaufen (laut den drei Phasen von Bracos Wirkung auf seiner Webpage, sollte man in Phase zwei nach dem Besuch seine Filme gucken – „Die zweite Möglichkeit ist das Wiedererleben der Begegnung mit Braco durch seine Filme. Diese Wirkung basiert auf dem Prinzip der Resonanz, was sogar wissenschaftlich nachgewiesen ist.“ – und in der dritten Phase Bücher über ihn lesen: „Warum ist gerade das so wichtig? Weil unsere Gesellschaft voller Zweifel und Misstrauen ist und diese Berichte Ihnen zeigen, dass auch Sie sich darüber hinwegsetzen und dass Sie auf diesem Weg sehr viel bekommen können, vielleicht sogar mehr, als Sie erwarten.“). So indoktriniert verstärken sie ihr Angeglotzdasein dann auch gerne mit ein wenig Braco-Heilschmuck (80 bis 150 Euro).

Die pure Abzocke ist bei Braco so offensichtlich, dass es schon körperlich schmerzt, wenn man sieht, wie sich Tausende dafür vereinnahmen lassen und dabei nicht nur ihren Verstand, sondern auch ihr Wohlergehen riskieren. In seiner Gier durchbricht Braco jegliche moralische Grenze. In bester Kurpfuscher-Hybris verspricht er selbst, Krebs heilen zu können (was er allerdings nur auf der italienischen, ungarischen, mazedonischen und der US-Site anpreist, um in Deutschland, der Schweiz und Österreich nicht mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen).

Was treibt uns in diesen zivilisierten Breiten zu derart archaischen Glaubensbekenntnissen, nicht nur wider jegliche Vernunft, sondern auch ohne den frühzeitlichen Nutzen des Glaubens mangels Wissen? Der sprichwörtliche Menschenverstand war es doch, der uns zu dem werden hat lassen, was wir heute sind. Neben der Fähigkeit zum solidarischen, kooperativen Verhalten ist die Vernunft der entscheidende Evolutionsvorteil des Menschen. Seine Fähigkeit in den gegebenen Komplexitäten des Daseins alle erdenklichen Entscheidungssituationen meistern zu können, ohne im Einzelfall dafür konditioniert zu sein, aber auch ohne in endlose Alternativenabwägungen zu verfallen.

Freilich versucht Braco solch vernünftige Anhaltspunkte zu simulieren, indem etwa bei Veranstaltungen „Besucher“ lautstark Zeugnis ihres Glaubens ablegen, durch vielfache Verwebungen in einem kleinen Zirkel von Scharlatanen, die dann dem oberflächlichen Beobachter als zahlreiche verschiedene Belege erscheinen oder durch pseudowissenschaftliche Beweisführungen (zum Beispiel von einem, der vorgibt Professor zu sein – ohne Doktor-Titel und ohne eine Professur in seinem Lebenslauf anzugeben – der aber sicher Präsident der „Schweizerischen Parapsychologischen Gesellschaft“ ist und der seine Argumentation auf Theorien aufbaut, die zugegeben nicht objektivierbar sind und sich ausdrücklich in sinnlich nicht wahrnehmbaren Dimensionen erklären). Oder man verfällt dem Schwindel, weil einem nach ein paar Stunden Warten im Stehen das Blut in die Beine sackt und das Hirn nicht mehr gut durchblutet wird.

Sie merken, wie offensichtlich der Humbug gezimmert ist? Man muss es also schon auch noch unbedingt wahr haben wollen. So bleibt die Frage, warum wir derart unsere Vernunft schleifen? Ich fürchte, weil wir den Bezug zur existenzerhaltenden Funktion der Vernunft verloren haben. Glauben, was man gerne glauben möchte, ist so viel einfacher als vernünftig zu sein. Und in der Wohlstandsgesellschaft, im Wohlfahrtsstaat wird Unvernunft und Nutzlosigkeit nicht spürbar, nicht direkt sanktioniert. Das ändert aber nichts daran, dass unser Überleben nach wie vor von unserer Vernunft abhängt. Von der richtigen Interpretation einer komplexen Umwelt für das gedeihliche Fortbestehen der Menschheit. Mit einer wachsenden Schar Braco-Jünger ist das vermutlich nicht zu bewerkstelligen.


Auf kleiner Flamme

November 2010 – Nach Schätzungen der Betriebskrankenkassen leiden heute in Deutschland angeblich neun Million Menschen an Burn-out (Quelle: Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information). Der Wohlstand frisst seine Kinder? – Merkt denn wirklich niemand mehr, wie vollkommen unrealistisch inflationär wir uns selbst der Überforderung bezichtigen? Neun Millionen, das wäre ein Viertel aller deutschen Arbeitnehmer! Laut Weltbank müssen beinahe drei Milliarden Menschen auf der Welt mit weniger als zwei US-Dollar regionaler Kaufkraft auskommen und sich dafür in aller Regel Tag für Tag ausweglos rund um die Uhr schinden und gerade wir brennen in unserer durchschnittlichen 35,8-Stundenwoche massenhaft aus? Natürlich bedeutet ein Durchschnitt, dass auch bei uns viele deutlich mehr leisten müssen – die davon hauptsächlich Betroffenen, wie Selbständige, Landwirte oder akademische Berufe, beklagen aber gerade besonders wenig ihre Belastungen. Nein, nicht das Leiden-Müssen nimmt bei uns zu, es verschieben sich die Grenzen des Erträglichen. Was für die Betroffenen natürlich auf das Gleiche hinausläuft, aber nicht für die moralische Verpflichtung zur Beihilfe aus der Solidargemeinschaft. Aber auch darüber hinaus kann es uns nicht egal sein: Auf welchen starken Schultern wollen wir denn eine Zukunft bauen, wenn bald jegliche Verpflichtung zur Quelle scheinbar unbewältigbarer Überforderung wird?


In Aloe Veritas

August 2010 – „Aufgrund meiner persönlichen Erfahrung mit vielen Kunden in den letzten Jahren und auch meiner eigenen besiegten Krebserkrankung“, so beginnt die verbriefte Anpreisung der selbsternannten Vitalstoff- und Vitalitätstrainerin Amata B. aus Ottobeuren für Aloe Vera Hautpflegeprodukte vom Multi-Level-Marketing-Unternehmen Forever-Living-Produkte anpreist. Aloa-he / Aloe-he / Ich glaub daran / Dass keiner ohne / Creme leben kann.

Es ist schon arg, wenn jemand für ein paar Prozent Extra-Bonus bereit ist, mit dem Leben selbst zu experimentieren. Wirklich schlimm ist es aber, dass Frau B. das macht, weil es funktioniert. Nicht das Produkt, sondern das Verkaufen funktioniert. Forever-Living hat nach eigenen Angaben 9,5 Millionen willfährige Handlanger, genannt Distributoren, in 145 Ländern. Allein die deutsche GmbH hatte zu Spitzenzeiten (2003) 135,5 Millionen Euro Umsatz ausgewiesen.

Während uns die Mühelosigkeit unseres modernen Lebens, das fürsorgliche öffentliche Gesundheitswesen und eine immer bessere konventionelle medizinische Versorgung rapide steigende Lebenserwartungen beschert, suchen viele scheinbar gerade zum Trotz nach immer abstruseren Behandlungen für die wirklichen und noch mehr für die eingebildeten Wehwehchen. Es muss einem schon verdammt gut gehen, dass er es sich leisten kann, sich den eigenen gesunden Menschenverstand derart verreiben zu lassen.


Durch dick und dünn

Juni 2010 – Jeder sechste Deutsche ist behandlungsbedürftig dick (BMI > 30, das sind zum Beispiel über zwei Zentner bei 1,83 Körpergröße). Im europäischen Dicken-Vergleich belegen die Deutschen inzwischen Platz eins. Dabei dürfte die Statistik sogar noch schöngefärbt sein, weil bei uns im Gegensatz zu anderen Ländern nicht gewogen und gemessen wird, sondern befragt.

Untergewichtig sind nur zwei Prozent der Bevölkerung. Allerdings jede achte Frau im Alter von 18 bis 20 Jahren. Der Verdacht liegt nahe, dass hier nicht Mangel, sondern Mode herrscht.

Dekadenter Wohlstand macht krank.


Schuhschlank

Mai 2010 – Mens sana in corpore sano. Dessen ist sich auch unsere müßige Wohlstandsgesellschaft (noch) bewusst und sucht daher laufend nach möglichst anstrengungslosen Wegen der Gesunderhaltung. Die neue Generation der Freizeitschuhe, der Reebok „EasyTone Inspire“, verspricht ein Mehr an verbrannten Kalorien auch ohne sportliche Betätigungen, allein bei Alltagsbewegungen: “Schritt für Schritt zu einem schöneren Po und strafferen Beinen.“

Als passendes Oberteil zum Schuh empfiehlt Reebok ein „Lightweight Burnout Tee“ und offenbart damit, welch kranker Geist aus einem derart gesundgekauften Körper hervorzugehen droht.


Aufgemerkt

Mai 2010 – Auf ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitäts-Störung) muss man erst einmal kommen. Laut einer Forsa-Befragung im Auftrag der Techniker Krankenkasse meinen elf Prozent der bayerischen Eltern von ihrem Kind, dass es an ADHS krankt – in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern glauben so etwas gerade mal ein Prozent der Eltern. ADHS muss man sich leisten können.


Schön ist es auf der Welt zu sein

April 2010 – Laut den Ergebnissen einer repräsentativen Umfrage im Auftrag der KKH-Allianz kann sich jeder sechste Deutsche vorstellen, sich zur Steigerung der Attraktivität operieren zu lassen. Tatsächlich verzeichnet die Krankenkasse auch eine merkliche Zunahme an Anträgen der Versicherten zur Kostendeckung von Schönheits-OPs. Kosmetische Eingriffe sind allerdings noch kein Bestandteil der gesetzlichen Krankenversicherung. Dass sich das bald ändern könnte, lässt der folgende Beitrag vermuten.


Irrtum

April 2010 – Irre! Wir behandeln die Falschen - unser Problem sind die Normalen hat Manfred Lütz seinen aktuellen Kassenschlager genannt (Platz 4 der Spiegel-Bestsellerliste Sachbuch 15/2010). Wer sich das Buch aufgrund des Titels in der Hoffnung auf eine gesellschaftskritische Auseinandersetzung über Normalität und Pathologie unseres modernen Lebens kauft, wird freilich arg enttäuscht. Der politische Tiefgang dieses Werkes geht nur bis zu der dem Titel widersprechenden Erkenntnis: „Kein Mensch ist einfach nur normal. Wenn ‚normal’ schon nichts für die Ewigkeit ist, dann sind ‚normal’ nur vorübergehende Verhaltensweisen, die jedem von uns unterlaufen, auch Ihnen und mir. Auf die Gefahren dieser ‚Normalität’ wollte das Buch hinweisen, ohne freilich ihre Segnungen zu verschweigen. Denn in diesem Leben sind wir darauf angewiesen, dass das meiste ‚normal’ abläuft.“ Ist dann unser Leben an sich das behandlungswerte Problem, Herr Lütz?
Tatsächlich ist das Buch eine recht autistische Selbstbeweihräucherung psychiatrischer Therapiemöglichkeiten, was ohne den Etikettenschwindel eher nur Verkaufszahlen wie von Paranoia für Anfänger bewirkt hätte. Einzig in der Abgrenzung, wann eigentlich ein Verhalten als psychisch krankhaft zu bezeichnen ist, stecken ein paar tieferschürfende Gedanken, die man sich allerdings selbst dazu machen muss. Krank ist man laut Lütz, wenn man selbst und/oder andere unter einem bestimmten Verhalten leiden. Der Leidensgrad als schlüssiges Kriterium für die Behandlungswürdigkeit erhebt die subjektive Leidensfähigkeit zum objektiven Maßstab. So lässt sich über kurz oder lang auch Unbequemlichkeit als Krankheit definieren. Dann kann endgültig jede eigene Anstrengung durch einen sozialstaatlichen Anspruch auf Behandlung ersetzt werden.


Unlustig

Februar 2010 – Nach Hochrechnungen im Arztreport 2010 der Barmer GEK geht jeder gesetzlich Versicherte durchschnittlich 18 Mal im Jahr zum Arzt (ohne Zahnarzt). Gemeinsam mit Japan sind wir damit wahrscheinlich Weltspitze (OECD). Maßgeblichen Anteil an der wachsenden Anzahl von Arztbesuchen und zweit häufigste Ursachengruppe: Depressionen. Nach Hochrechung der Barmer GEK wurden 2008 bei 6,6% der 70 Millionen gesetzlich Versicherten Depressionen diagnostiziert. Das sind 4,6 Millionen Bundesbürger – mindestens jeder 17. Deutsche glaubt sich also depressiv (und bekommt das auch ärztlich attestiert). Bemerkenswert: Laut dem Arztreport 2010 sind die Diagnosen zum überwiegenden Teil – bei einer Auswahl von 24 normierten Alternativen – nur einer, der unspezifischsten Variante zuzuordnen; „depressive Episode, nicht näher bezeichnet“ – Der Verdacht liegt nahe, dass man wohl oft auch hätte sagen können: mal nicht so gut drauf gewesen. 4,1 Milliarden Euro hat das den Sozialversicherungspflichtigen 2008 gekostet. Unlust muss man sich leisten können.


Krankmachen

Dezember 2009 – Eindrucksvolle Belege, wie wir immer mehr das Leben an sich in ein therapiebedürftiges und medikamentenabhängiges Dasein umwandeln, finden sich in den gesellschaftlich ambitionierten Publikationen des altgedienten Psychiatrieprofessors Klaus Dörner (über ein Land voller Menschen, die sich „möglichst lebenslang sowohl chemisch-physikalisch als auch psychisch für von Experten therapeutisch, rehabilitativ und präventiv manipulierungsbedürftig halten, um ‚gesund leben‘ zu können.“). Sehr plakativ seine zweijährige Analyse der Berichte über wissenschaftliche Untersuchungen zur Häufigkeit psychischer Störungen in zwei überregionalen Zeitungen: Dörner zählte die veröffentlichen Erkrankungsquoten zusammen und kam für die Gesamtheit der deutschen Bundesbürger auf 210 Prozent – das heißt, jeder Deutsche leidet laut Expertenmeinungen durchschnittlich an mehr als zwei psychischen Störungen, die therapiert werden müssten, wie Angst, Depressionen, Sucht, Traumata, Essstörungen oder Schlaflosigkeit („Die allmähliche Umwandlung aller Gesunden in Kranke“, Frankfurter Rundschau 26.10.2002). Gegen diese Pandemie der psychischen Krankerklärungen ist kein Kraut gewachsen, wird aber nichtsdestoweniger verschrieben und verkauft. Der boomende Gesundheitsmarkt vom functional food über die Fitnessausrüstung bis zum Kernspintomographen ist das Spiegelbild unserer hypochondrischen Wehleidigkeit, die gerade ihren psychosomatischen Hype durchlebt.

Mit dem Versuch den Umgang mit Schmerzen und Leiden oder anderen Befindlichkeitsstörungen vollständig aus der Hand zu geben – ja sogar ein Grundrecht auf eine solche Unversehrtheit zu fordern – berauben wir uns des Kraftpotentials der Selbstbewältigung. Wir nehmen uns die Erfahrung des Durchstandenen. Wir verzichten auf den motivierenden Stachel der Knappheit, der Not. Dörner fragt aber zu Recht, „ob man sich nicht nur zu Tode überlasten, sondern auch zu Tode entlasten“ kann. „Damit ein Schiff oder ein Fesselballon optimal freie Fahrt machen kann, muss auch der Ballast stimmen.“ Die Zähne zusammenbeißen können, ist eine Frage des Menschseins.


In Schönheit sterben

August 2009 – Unser Glück hängt immer mehr von der Manipulation des Faktischen ab: Die Zahl der Schönheitsoperationen in Deutschland ist von 2006 bis heute von circa 400.000 auf mehr als eine halbe Million jährlich gestiegen. Der Trend geht aber eigentlich zu minimal invasiven Behandlungen wie Faltenunterspritzen. Da ist es allerdings bei uns schwierig, an Zahlen zu kommen. Die Süddeutsche Zeitung mutmaßt in einem Beitrag vom 21. April 2009, dass „alleine in Deutschland 2008 eine Million Botoxbehandlungen gemacht wurden“. Außerdem lassen sich aber auch recht eindeutige Aussagen finden. Die Behandlungsprofis warnen – weil sie um ihre Geschäfte fürchten – vor unsachgemäßer Spritzenhandhabung, „denn die so genannten Botox-Partys boomen regelrecht“. Der FOCUS-TV-Schönheitschirurg meint in einem BUNTE-Interview 2008: „Auffallend ist, dass die Anzahl der Faltenbehandlungen auch in Deutschland förmlich explodiert ist.“ Und Freundin rät ihren Leserinnen: „Keine Angst vor diesem Nervengift, für Beauty-Anwendungen wird es in stark verdünnter und damit vollkommen ungefährlicher Form verwendet.“ Wie ich schon im Buch geschrieben habe: „Da wächst die erste Generation der Menschheit heran, die in Schönheit sterben wird.“

Dazu passend: In Ungarn findet im Oktober 2009 die erste Wahl zur Miss Plastic Hungary statt. Ein Schönheitswettbewerb, bei der nur Frauen teilnehmen dürfen, die sich mindestens einer Schönheitsoperation unterzogen haben, bei der wenigstens eine örtliche Betäubung notwendig war. „Here, women who had plastic surgery show the world that beauty operations are not the work of the devil, that they can be natural and tasteful, and that perfect beauty can be even more perfect.” Nach Angaben der Veranstalter soll der Contest plastische Eingriffe in Ungarn salonfähig machen, damit man den kulturellen Anschluss an den Westen nicht verpasst. In großen Teilen der westlichen Welt wären nämlich Schönheitsoperationen „everyday treatments“. „The first competition that is not afraid to go with the flow.”


Die Kinder-Stilllegungspraxis macht Schule

Juli 2009 – Immer mehr Kinder werden mit Psychopharmaka leichter handhabbar gemacht. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen titelt in seinem Sondergutachten 2009 in Bezug auf Verschreibungen an Kinder: „Besonders häufig: Präparate für Erkältung und ADHS“ (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung). Auf Datengrundlage der Gmünder Ersatzkasse sind in den Altersgruppen von 7 bis 11 Jahren und 11 bis 14 Jahren jeweils ADHS-Medikamente unter den Top 5 der am häufigsten verordneten Arzneimittel. Bei den 11- bis 14-Jährigen ist das ADHS-Mittel Medikinet sogar auf Platz 1 und zusätzlich Concerta auf Platz 5 (beide mit dem Wirkstoff Methylphenidat, der auch unter dem Handelsnamen Ritalin bekannt ist und nach dem Betäubungsmittelgesetz einer gesonderten Verschreibungspflicht unterliegt sowie für Erwachsene ab 18 Jahren in Deutschland gar nicht zugelassen ist). Zur Wirkweise von Methylphenidat bei ADHS gibt es allerdings nur Hypothesen. Der Sachverständigenrat sieht außerdem die Gefahr möglicher Nebenwirkungen wie Schlaf- und Wachstumsstörungen. Studien belegen, dass die Wirkung der medikamentösen Behandlung langfristig einer reinen Verhaltenstherapie nicht überlegen ist.

Ergo: Mit der schnellen ADHS-Diagnose und dem unweigerlichen darauf folgenden Griff zu den Tabletten, entledigen sich immer mehr Eltern ihrer Erziehungspflichten.

Insgesamt war bei der Gmünder Ersatzkasse 2007 Medikinet das zweit umsatzstärkste Medikament bei Verordnungen an Versicherte unter 18 Jahren – mit einem Zuwachs im Vergleich zu 2006 von 26 Prozent. Concerta ist auf Platz 4 dieser Liste (plus 1 Prozent), Strattera auf Platz 8 (plus 23 Prozent; Wirkstoff Atomoxetin – der Hersteller selbst warnt bei diesem Medikament vor einem signifikant erhöhtem Selbstmordrisiko) und Equasym auf Platz 15 (plus 310 Prozent; Wirkstoff wieder Methylphenidat).

In ganz Deutschland ist bei Methylphenidat die verordnete Menge von 1997 bis 2008 um mehr als das Zwölffache gestiegen auf 50 Millionen Tagesdosen.

Damit können 280.000 Kinder ein halbes Jahr durchgehend behandelt werden. Dabei stellt der Sachverständigenrat zugleich fest: „Eine Zu- oder Abnahme psychischer Auffälligkeiten ist bei Kindern und Jugendlichen in den vergangenen Jahrzehnten insgesamt nicht festzustellen.“ Es gibt also keine ADHS-Epedemie, sondern immer mehr Kinder werden aus Bequemlichkeit mit gesundheitsgefährdenden Drogen künstlich ruhig gestellt.

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