Kinder & Erziehung

Das alte Neue aus Absurdistan in der Kategorie Kinder & Erziehung - 13 Beiträge


Vom Fernsehen fürs Leben lernen?

Juli 2015 – Neulich im Religionsunterricht meines Sohnes (10. Klasse): Diskussion über Orientierungshilfen in der zuvor eingeredeten „Multioptionsgesellschaft“ – das Religionsbuch ist sich da sicher: »Sogenannte „Daily Soaps“ im Fernsehen werden von Jugendlichen oft und gerne gesehen. In ihnen wird viel gesprochen und alles wird ausdiskutiert. Jugendliche verstehen sie als Lernprogramme, mit sozialen Problemen umzugehen. Sie lernen, wie Beziehungen ablaufen und Konflikte gelöst werden. Das große Handlungsspektrum erlaubt jeder und jedem, sich irgendwo wiederzufinden. Hier lässt sich abschauen, wie man sich kleidet, wie man mit den Lehrerinnen und Lehrern umgeht, welche Frisuren in Mode sind; eigene Ängste und Unsicherheiten werden thematisiert und Lösungen „vorgelebt“.« (Leben gestalten 10, Unterrichtswerk für den katholischen Religionsunterricht am Gymnasium, S. 90)
Das muss man sich bitte auf der Zunge zergehen lassen. Offenbar in einem Anflug von Wir-sind-auch-cool-Wahnsinn empfiehlt die katholische Kirche scripted realities von RTL2 und Konsorten als ernsthafte Hilfen auf der Suche nach Orientierung, Sinn und Halt? Billigste Trash-Produktionen, deren Wirklichkeitsabbildung durchweg geprägt ist von simpelster Klischeehaftigkeit gepaart mit pseudo-sensationellen Dramatisierungen im Minuten-Takt. Das sollen ethische und soziale Lernprogramme für unsere Jugend sein? Zu einer solchen realtainment TV-Soap „Berlin – Tag & Nacht“ hat SPIEGEL ONLINE einmal kommentiert: »Bestimmt gibt es eine Zielgruppe für all das - warum auch nicht. Schlimm ist aber, wie einfalls- und geschmacklos das alles gemacht ist. Das Drehbuch ist grob zusammengekritzelt, der Rest improvisiert, die Dialoge sind Stammeleien. Das soll zumindest halb-real sein? Beim Gedanken daran will man kreischend der Menschheit abschwören und zum Tier werden.« (Hauptstadt-Soap auf RTL II: Runter mit dem Raubtierhöschen, Ole! )
Ganz abgesehen davon, dass die Soaps in unmittelbarer Nähe und mit fließenden Übergangen zu Reality Shows laufen, die zum Beispiel Jugendliche Pornografisieren (wie bei Germany‘s Next Topmodel) oder geistig Minderbemittelte voyeuristisch ausbeuten (wie bei Beate & Irene). Zu Casting-Shows zitiert das Religionsbuch die Medienwissenschaftlerin Maya Götz vom Internationalen Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen, die das gar für unschätzbare Orientierungshilfen hält. »Dank einer Sendung wie „Germany’s Next Topmodel“ könne man lernen, wie man sich als junge Frau für andere in Szene setze.« Schauen Sie sich einmal ein paar Sequenzen zum Beispiel vom Sexy Boy Shooting bei Germany’s Next Topmodel an (im Link oben oder hier) und dann überlegen Sie kurz, ob Sie wollen, dass sich ihre Tochter jemals so in Szene setzt. Solche – öffentlich finanzierten – Medienwissenschaften sind gemeingefährlich.
Das alles hat mit Orientierungshilfen nicht das Geringste zu tun. Das ist im Großen und Ganzen die mediale Inszenierung des Untergangs von Humanismus und Aufklärung. Da wünscht man sich doch sogar als Atheist lieber eine Kirche, die einen Exorzisten schickt, um diversen Privatsendern die Volksverdummung auszutreiben, also solche weichgewaschenen und unreflektierten Anbiederungen.


Versprachlosung

Januar 2014 – Elomen elomen lefitalominal / Wolminuscaio / Baumbala bunga / Acycam glastula feirofim flinsi / … okay, okay ich erspare Ihnen die restlichen zehn Verszeilen; es geht so weiter. Bei dieser Buchstabensuppe handelt es sich um ein „Gedicht“ von Hugo Ball überschrieben mit Wolken. Ergüsse einer eigentlich heute längst bedeutungslosen Entgleisung des literarischen Kulturbetriebs zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Allein wegen der eingängig klangvollen Gattungsbezeichnung Dadaismus ist diesem Genre noch ein Quäntchen Erinnerung geblieben. Wobei man da heute aber eher an ein Synonym für gaga denkt, als dass sich noch jemand an irgendwelche Hintergedanken des Dadaismus erinnert, die es in beachtenswerter Form wahrscheinlich nie gegeben hat.

Das alles wäre wirklich nicht der Rede wert, wenn nicht Neuntklässler in bayerischen Gymnasien dazu aufgefordert sein würden, solche Sinnlosigkeiten einer marginalen Literaturblase in ihre Schulhefte zu übertragen und das Abgeschriebene dann als emotionalen Vortrag vorzubereiten. Und es wäre auch leichter verständlich, wenn von ihnen Gleiches schon zu Gedichten von Heine, Goethe, Schiller, Lessing oder Hölderlin gefordert gewesen wäre. Aber nein, allein Hugo Ball und seinen unsinnigen Kunstworten kommt diese Ehre zu. Als wären in Romantik, Sturm und Drang, Aufklärung und Klassik nicht auch Verse emotional rezitierbar. Die würden dann tatsächlich auch noch zusätzlich Sinn machen. Wir sind ja, mit Verlaub, keine Affen, die nur grunzen können, um ihre Gefühle mitzuteilen. Uns hat die Evolution zur Sprache befähigt. Eigentlich.

In der Tat lässt unsere Sprachbefähigung gravierend zu wünschen übrig. Die Begeisterung bayerischer Germanisten für Dada ist da wahrscheinlich nicht ursächlich. Aber Metapher. Die Pisa-Studie für Erwachsene, Piaac, hat unsere wachsenden Kommunikationsdefizite Ende letzten Jahres einmal mehr offenbart: 17,5 Prozent der Deutschen, also fast jedem fünften erwachsenen Bundesbürger, fehlen Basiskenntnisse im Lesen, so dass sie zum Beispiel aus einem kurzen Katalog mit ein paar einfachen Regeln nicht herausfinden können, bis wann ein Kind spätestens im Kindergarten sein sollte, obwohl gleich die erste Anweisung schlicht lautet: „Bitte sorgen Sie dafür, dass Ihr Kind bis 10 Uhr hier ist.“

Für eine Kultur, die eben nicht auf uga uga und baumbala bunga baut, sondern elementar auf Sprache, ist das fatal. Die Philosophin Hannah Arendt sah in der Kommunikation, im Finden der rechten Worte für alles Zwischenmenschliche, die grundlegendste Form des Handelns, das eine Gesellschaft begründet und erhält. Sprechen ist im wahrsten Sinne des Wortes Ausdruck der individuellen Freiheit, die das Gemeinsame gestaltet. Die Ausdrucksfähigkeit in Wort und Schrift ist der Mörtel einer demokratischen Gesellschaft.

Wenn laut dem Rat für deutsche Rechtschreibung nur noch jeder fünfte Schüler in der neunten Jahrgangsstufe die (neue, vereinfachte) deutsche Rechtschreibung beherrscht und diverse Kultusminister auf solche Hiobsbotschaften mit der abstrusen Idee reagieren, dass man dann zum „Lernen“ gleich schreiben darf, wie man’s gehört hat und die Rechtschreibung gar nicht mehr korrigiert wird, dann zeugt das von der vorauseilenden öffentlichen Kapitulation vor diesen Herausforderungen der offenen Gesellschaft. Genauso wie klassische Schullektüren in gekürzter Form, vereinfachter Sprache und bebildert. Warum nicht gleich statt Schillers Glocke: Loch in Erde / Bronze r’in / Glocke fertig / Bim Bam Bim – und ein Video dazu?

Dass inzwischen RTL-II-News die Tagesschau bei den 14- bis 49-jährigen Zuschauern abgehängt hat, lässt erahnen, wie weit wir schon fortgeschritten sind in unserer zersetzenden Sprachlosigkeit. Emotionen statt Nachrichten. Grunzen statt Worte. Elomen elomen lefitalominal / Wolminuscaio / Baumbala bunga … und so weiter, statt: Denk ich an Deutschland in der Nacht, / Dann bin ich um den Schlaf gebracht, / Ich kann nicht mehr die Augen schließen, / Und meine heißen Tränen fließen.


Erziehung ohne Grenzen

Juli 2013 – Kinder an die Macht grönemeyerte es 1986 landauf, landab. Man möge doch bitte den lieben Kindern das Kommando überlassen, hieß es, weil sie berechnen nicht, was sie tun. Na Pusteblume, ganz gewaltig wird da heute in Kinderzimmern und auf Pausenhöfen berechnet, was man nicht noch alles haben und kaufen will. Dafür sind die Kinder aber inzwischen auch tatsächlich an der Macht – an der Marktmacht. Ihr Taschengeldbudget von knapp 3 Milliarden Euro (bis 13-Jährige) ist dabei noch eher belanglos. Viel entscheidender ist das wachsende Geschick der Kinder, durch mehr oder weniger Quengeln Kaufentscheidungen zu beeinflussen. Über rund 70 Milliarden Euro verfügen sie damit, meinen Forscher vom Institut für Recht und Wirtschaft an der Universität Hamburg. Das sind immerhin fast 3 Prozent des deutschen Bruttoinlandprodukts.

Die alltägliche Erfahrung belegt es eindrucksvoll. Man findet sie in jedem Nahkauf oder Edeka um die Ecke: die Erziehungsberechtigte mit der Lizenz zum Nervtöten. Gerne auch in der männlichen Variante. Jedenfalls begleitet vom Nachwuchs, der mit Öffnen der automatischen Schiebetür unmittelbar das Konditionierungsprogramm anwirft und schier unerschöpflich zu maulen, zu betteln und rumzuplärren anfängt. Kein Regal, das nicht mindestens mit einem neuen Quengel-Reiz aufzuwarten weiß. Die Mutter/der Vater reagieren dann in aller Regel mit Widerspruch in öffentlichkeitsheischender Lautstärke (schaut alle her, ich bemüh mich ja) und quälen sich mit einer halbwegs kreativen Wahl aus ihrem beschränkten Satz von Pseudobelehrungen: du hast doch schon/du magst das doch gar nicht/das gibt es wo anders billiger – hier in Bayern in dem Moment auch gerne bemüht hochdeutsch artikuliert. Im Idealfall solcher Pawlowscher Eltern kann der Sprössling dann bereits zum nächsten Regal weiterziehen und sich eine neue Inspiration für den nächsten Anfall suchen, während der willfährige Elternlakai das bereits Erquengelte brav in den Wagen packt.

Man denkt sich’s schon: Glücklich macht das nicht. Die UNICEF hat das jetzt auch mit einer Studie zur Lage der Kinder in Industrieländern 2013 belegt: Objektiv ist die Lebenssituation der deutschen Kinder und Jugendlichen Spitzenklasse – Bildung, Wohlstand, Gesundheit, Sicherheit, überall geht’s ihnen im internationalen Vergleich hervorragend. Bei der subjektiven Empfindung rangiert Deutschland aber am unteren Ende der Liste – in keiner anderen Industrienation ist die Diskrepanz zwischen Realität und Wahrnehmung größer. Und außerdem sind die deutschen Kinder auffallend stark übergewichtig. Wenn das mal nicht alles zusammenhängt.

Aristoteles beschreibt das Glück als Ergebnis eines tugendhaften Lebens. Und für die Tugenden des Charakters gilt, dass sowohl Mangel als auch Übermaß vermieden werden müssen. Das kommt allerdings nicht von selbst, man muss es durch Erfahrungen und Erziehung lernen. Unabhängig vom verfügbaren Reichtum ist es also wesentlich, Maßhalten zu lernen. Unvermeidbar ist dabei, Verzicht zu üben. Die elterlichen Grenzen diesseits des Möglichen sind dementsprechend die unerlässlichen Leitplanken zum Glück ihrer Kinder.

Da ist es dann auch müßig, auf die böse Industrie mit Paula, Tony Tiger, Käpt’n Iglo und Haribo-macht-Kinder-froh-Thomas zu schimpfen. Die schaffen nicht die elterliche Willenlosigkeit, die nutzen sie nur aus. Dagegen hilft nur: Eltern an die Macht!


Paradise Regained

Juli 2012 – Über dem großen Teich versinkt der gesunde Menschenverstand. An dem zum Eisberg erstarrten Sorbet von christlichem Fundamentalismus und staatlicher Förderung kommt die Titanic der Vernunft nicht unbeschadet vorbei. Was fatal enden kann, weil die Vernunft, anders als vermutet, vielleicht doch nicht unsinkbar ist.

Der US-Bundesstaat Louisiana fordert seit 2008 im Louisiana Science Education Act seine Lehrer auf, ihre Schüler zur „kritischen“ Haltung unter anderem gegenüber der Darwinschen Evolutionstheorie zu erziehen. Unter dem Deckmantel wissenschaftlicher Denkfreiheit werden die Schulbehörden aufgefordert „to assist teachers, principals, and other school administrators to create and foster an environment within public elementary and secondary schools that promotes critical thinking skills, logical analysis, and open and objective discussion of scientific theories […] including, but not limited to, evolution, the origins of life, global warming, and human cloning“. (Am Rande: sehr bezeichnend, dass menschliches Klonen hier zur wissenschaftlichen Theorie befördert wird.)

Das treibt erwartungsgemäß inzwischen Blüten. Staatlich geförderte private christliche Schulen verwenden in Louisiana ein Biologiebuch, in dem sich die Evolutionstheorie mit der unglaublichen Leichtigkeit des Glaubens selbst aushebelt: Weil es Nessie, ja richtig das Ungeheuer im schottischen Loch Ness, gibt und selbe fraglos einen Plesiosaurier verkörpert, ist Darwin widerlegt, denn nach dem könnten ja Menschen und Saurier nicht gleichzeitig auf der Erde wandeln. Unfassbar, aber genauso steht’s geschrieben:
„Are dinosaurs alive today? Scientists are becoming more convinced of their existence. Have you heard of the 'Loch Ness Monster' in Scotland? 'Nessie' for short has been recorded on sonar from a small submarine, described by eyewitnesses, and photographed by others. Nessie appears to be a plesiosaur.“ („Biology 1099“, Accelerated Christian Education 1995)
Und, naja, ein schwimmfähiger Saurier könnte ja leicht die Sintflut überlebt haben, auch wenn er Noahs Arche verpasst hat. Ergo alles Leben auf der Erde wurde, wie’s in der Bibel steht, in sechs Tagen vor rund 6.000 Jahren erschaffen. Quod erat demonstrandum.

Die Vererbungslehre der Evolutionstheorie kommt übrigens in diesem Schulbuch gar nicht vor, dafür so manch andere abstruse Idee . Für Tausende von Kinder zahlt der Bundesstaat Louisiana das Schulgeld, damit sie durch Schulen gehen dürfen, die ganz gezielt nach und nach Wissen durch Glauben ersetzen. Noch konzentriert sich diese Gegenaufklärungen auf Amerika, aber was ist uns nicht schon alles über den großen Teich geschwappt.


Schulschwänzer

Oktober 2011 – Gerade einmal vier Wochen nach den Sommerferien unternimmt das Kollegium eines Gymnasiums hier bei uns einen Personalausflug, um „etwas Abstand vom Alltag zu gewinnen“. Derselbe ist offenbar von einem arg unpersönlichen Nebeneinander statt Miteinander geprägt, denn der Ausflug soll auch einmal „der persönlichen Seite Raum geben“. Nun, solcherlei Begründungen könnte man leicht als etwas unglücklich ausgedrückt ad acta legen. Dass für diesen Spaß aber an der ganzen Schule die fünfte und sechste Stunde sowie der Nachmittagsunterricht entfallen, lenkt den Ärger dann doch auf derart fadenscheinige Rechtfertigungen: Sollen die Herr- und Damenschaften LehrerInnen doch bitte Ihren Abstand vom Alltag an 52 Wochenenden, in 14 Wochen Ferien oder an diversen zusätzlichen Feiertagen gewinnen und der persönlichen Seite vielleicht mit ein wenig mehr alltäglicher Zusammenarbeit Raum geben. Dem Ganzen die Krone setzt die Schulleiterin noch auf, wenn sie schreibt, dass sich die Schülerinnen und Schüler auf einen verkürzten Schultag freuen dürfen. Das ist dann so, wie wenn der Zahnarzt sagen würde, man könne sich freuen, es tue weniger weh, er bohre die Karies nur zur Hälfte raus.


Frühkindliche Verziehung

Mai 2011 – Das Magazin Glamour hat eine Fünfjährige auf die Liste der bestgekleideten Stars gewählt (Suri Cruise, die Tochter von Tom Cruise und Katie Holmes). Designerklamotten, High Heels und Make-up halten Einzug im Kindergarten. Voll im Trend daher auch Kinder-Wellness und Beauty-Anwendungen ab vier Jahren: einfache Fuß-, Hand- und Rücken-Massage, ayurvedische Körperölung, Cremepackungen im warmen Wasserbett oder ganz besonders „kindgerecht“ Schoko-Massage, Erdbeerquark-Maske, Schaumbad mit Gurkenbrille, Prinzessin Lillifee-Glitzermassage, Dornröschenpeeling, Schokosahne-Bad, Fred-Feuerstein-warme-Steinmassage und schließlich bei einem Gläschen Kindersekt auch Maniküre und Pediküre mit Nägellackieren, Wellnessfriseur und Schminken vom leichten Tages-Make-up bis zum Wimpernfärben. Von klein auf wird da eine Nachkommenschaft auf narzisstische Nutzlosigkeit konditioniert. Von klein auf wird ihnen die gegebene Leichtigkeit des (Kind-)Seins als Stress eingeredet, den man sich nur im Spa-Resort abkonsumieren kann. Mir graut vor einer Welt, die von lauter Barbies und Kens beherrscht wird.


Alter Egos

April 2011 – Noch einmal Zahlen aus Society at a Glance 2011 der OECD: 2008 kamen in Deutschland auf einen Rentner (65+) drei Personen im Erwerbsalter (20 - 64 Jahre) – nur in Italien und Japan war die Situation noch trostloser; 2050 werden es nur eineinhalb im Erwerbsalter sein, die einen Rentner unterhalten müssen. Wer 2050 mit 65 in Rente ginge, wird zudem durchschnittlich noch weit über 20 Jahre leben. Ein selbsterhaltender Teufelskreis: Laut einer Studie des internationalen Wissenschaftsverbundes „Population Europe“ neigen Ältere und Kinderlose dazu, „eine Rentenpolitik zu bevorzugen, die der jüngeren Generation eine größere Last aufbürdet“. Dreimal verloren: Immer weniger Arbeitende sollen für immer mehr Rentner mitverdienen, die davon immer länger zehren und ihre Mehrheit für immer umfangreichere Leistungen einsetzen werden. Da ist uns offenbar ein Instinkt gänzlich abhanden gekommen: die Arterhaltung.


Spiel ohne Grenzen

März 2011 – Die Multifamilientherapie nach Eia Asen und Michael Scholz ist ein wirksames Verfahren gegen Magersucht oder Bulimie bei Kindern. Ein Leitgedanke dieses systemischen Ansatzes ist „Eltern müssen wieder Eltern werden“. Dementsprechend lernen die Eltern im Laufe der Therapie, die notwendige elterliche Autorität durchzusetzen. Sie lernen, ihren Kindern Grenzen zu setzen.
Nun wäre es billig, im Umkehrschluss allein den Eltern die Schuld für die Erkrankung ihrer Kinder in die Schuhe zu schieben. Da können wohl auch viele andere Gründe mitwirken oder sogar hauptursächlich sein. Trotzdem macht es einmal mehr die notwendige Auseinandersetzung in der Erziehung deutlich. Lernen, Heranwachsen heißt Grenzen des Vermögens und des Möglichen auszutesten, auch Grenzen zu übertreten und die Konsequenzen daraus zu erfahren. Das kann aber nur funktionieren, wenn es Grenzen gibt, wenn sie nötigenfalls gesetzt werden und Übertritte sanktioniert werden. Und wer könnte diese Aufgabe besser, liebevoller übernehmen als die Eltern?

Die grassierende Erziehungsverweigerung, weil man sich schon nachmittags nicht mehr aus dem Fernsehsessel aufraffen kann oder aus anderen Gründen der antiautoritären Bequemlichkeit erliegt, ist ein Verbrechen an den Kindern und letztlich damit auch an unserer Gesellschaft. Passen Sie einmal auf, wie viele ungestörte Sätze sie mit einer Mutter/einem Vater in Anwesenheit ihres/seines Kindes wechseln können (ohne dass es dieser Mutter/diesem Vater überhaupt noch auffiele, dass man ob der laufenden Unterbrechungen keinen einzigen Gedanken zu Ende bringen konnte), oder ob das Ü-Ei an der Kasse doch im Einkaufswagen liegt, obwohl dem nölenden Kind zuvor im Laden schon zigmal versichert worden war, dass es heute nichts gibt, oder wie lange „aber nur eine halbe Stunde“ Computer spielen in der Regel so dauert …


Also lautet ein Beschluss

Januar 2011 – Auch verbeamtete Lehrer dürfen streiken, das hat das Düsseldorfer Verwaltungsgericht mit Bezug auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entschieden. In der weiteren Begründung hieß es außerdem, dass Lehrer „nicht zum beamtenrechtlichen Kernbereich“ gehören würden!? Aha!?

Nun, lässt man einmal außen vor, dass sich aus der Verbeamtung eigentlich eine besondere Verpflichtetheit ableiten lassen sollte, bietet der Beamtenstatus doch ganz bewusst Schutzrechte, die eigentlich in hohem Maße Loyalität gegenüber dem Dienstherrn – sprich dem Staat, sprich unserem Gemeinwesen – gebieten (es wird ja niemand gezwungen Beamter zu werden, oder?). Und auch einmal ganz abgesehen davon, dass es sich Lehrer ganz gut einteilen könnten, ihr Menschenrecht auf Koalitionsfreiheit in der unterrichtsfreien Zeit wahrzunehmen (und nicht mit Warnstreiks während der Schulzeit ganz bewusst ihre persönlichen Interessen zu Lasten der Gesellschaft vertreten müssten). Das alles einmal beiseite, könnte einen das Urteil ja hoffnungsvoll stimmen. Die Richter sind offenbar überzeugt, dass Lehrer nicht wirklich Beamte sind. Dann sollten sie es auch nicht sein.

Die Notwendigkeit einer halbwegs aufgeklärten Bevölkerung für die demokratische Verfassung einer Gesellschaft genauso wie die Bedeutung von Bildung für das Wohlergehen der Bundesrepublik Deutschland würden wohl durchaus einen hoheitlichen Auftrag begründen. Bei dem heutigen Wissen über die Rolle des frühkindlichen Lernens, müsste dann aber längst auch den Erzieherinnen in Kindertagesstätten die Beamtenlaufbahn eröffnet werden.
Insbesondere aber verführt der Beamtenstatus gepaart mit der Unabhängigkeit in der Ausübung nicht wenige im Lehrerberuf zu arg eigenbrötlerischen Zieldefinitionen und Arbeitsweisen und eben gerade zum Drücken vor der Verpflichtetheit in den unterschiedlichsten Facetten. Diejenigen stellen die Idee eines Beamten als Diener des Volkes geradezu auf den Kopf. Ja, ja das lässt sich auch über andere Beamte klagen, hat aber selten so weitreichende Folgen wie bei Lehrern. Es macht eben einen Unterschied, ob man einen Antrag auf Zuteilung einer Mülltonne oder ein Kind unwillig bearbeitet. Und von fahrlässiger Nachlässigkeit bis zum vorsätzlichen Unwillen reichen die möglichen und tatsächlichen Vertuschungen unter dem Deckmantel des Beamtentums – vom Unterricht per schier endloser Aneinanderreihung unkommentierter Videos bis zur Arbeitsverweigerung durch vorgeschützte, nicht objektiv diagnostizierbare Erkrankungen.

Um die anderen, die besonders engagierten Lehrer und auch die, die ihren Beruf einfach nur ernst nehmen, mache ich mir dabei keine Sorgen – denen werden sich ohne die starren Laufbahn- und Besoldungsregelungen der Beamten wohl eher Chancen eröffnen, als dass ihnen daraus Risiken erwachsen.


Schweig Bub

Oktober 2010 – Für jeden fünften deutschen Nachbarschaftsstreit ist Kinderlärm der Grund (repräsentative FORSA-Umfrage 2010 im Auftrag der Techniker Krankenkasse). Besonders bedenklich, da doch die Kinder eh immer mehr Zeit still am Fernseher, dem Computer oder mit der Spielkonsole verbringen. Zugegeben, Kindern Grenzen zu setzen, kommt offensichtlich immer mehr aus der Mode, wohl auch was das Lärm-Machen betrifft. Aber ebenso, und das ist hier eigentlich ausschlaggebender, die Selbstverständlichkeit der Anwesenheit von Kindern.

Das Kind an sich ist Rarität geworden. Das Laut gebende schon gleich gar. In München zum Beispiel leben in 83,3 Prozent der Haushalte keine Kinder (Stand: 2008). Da darf nur des Deutschen liebstes Kind, Krach machen – das Auto.


Denaturiert

Mai 2010 – Ein Drittel der Schüler im Alter zwischen 12 und 15 Jahren hat noch nie im Leben einen Käfer oder einen Schmetterling gefangen. (Jugendreport Natur ’06: Natur obskur)


Rechenfehler

Januar 2010 – Laut dem Münchner Merkur vom 24.12.2009 fordert die Landes-Eltern-Vereinigung der Gymnasien in Bayern e.V. die Abschaffung von Mathematik als Abiturpflichtfach. Lässt sich schon schwerlich über die überragende Rolle von Mathematik neben Deutsch und Englisch für die generelle Studierfähigkeit streiten, die Begründung der LEV schlägt dem Fass den Boden aus: Zwei Drittel der Schüler hätten mit dem Fach Probleme. Da ist er wieder, der allgegenwärtige Reflex in unserem Bildungssystem: Gefühlte Überforderung führt zur Reduzierung der Anforderungen statt zur Steigerung der Anstrengungen. Wer einen Eimer Wasser ausschüttet, um leichter daran zu tragen, braucht sich nicht wundern, wenn er später nichts zu Trinken hat.

Ebenfalls zwei Drittel (der Deutschen) vertrauen auf die Hilfe von Schutzengeln (GEO 2005). Wenn’s nach der LEV geht, werden wir die auch dringend brauchen.


Ausgelesen

November 2009 – Im Buch hatte ich bei der Betrachtung der sprachlichen Verarmung via Internet bereits kurz die Schullektüren „… einfach klassisch“ erwähnt. Der Cornelsen-Verlag gibt in dieser Reihe klassische Literaturwerke sprachlich vereinfacht, gekürzt und bebildert heraus – in der Reihe „einfach lesen!“ verlegt Cornelsen sogar Kinder- und Jugendbücher wie Pippi Langstrumpf oder Die Wilden Fußballkerle verstümmelt und versimpelt. In der ZEIT vom 12. November 2009 (Dossier: „Ein Land verlernt das Lesen“) verteidigt die zuständige Schulbuchredakteurin Gabriele Biela ihren Ansatz: „Mein besonderes Interesse galt immer den Schülern, die Probleme haben. Bei denen lautet die Alternative: die einfache Version oder gar nicht.“ Funktioniert so moderne (Schulbuch-)Pädagogik?: Als vorauseilende Kapitulation vor der Lernverweigerung.
Die maßgebliche Motivation, Lesen zu lernen, ist doch, etwas erfahren zu wollen, etwas verstehen zu wollen oder etwas miterleben zu wollen. Lesen lernen heißt, Lesen wollen lernen. Das Ziel lässt einen sich auf den Weg machen. Warum aber überhaupt losgehen, wenn man eh nur warten muss, bis man hingetragen wird. Warum etwas selbst entziffern, wenn eh zu erwarten ist, dass einem alles über kurz oder lang vorgekaut reingewürgt wird.

Als Ceausescu Probleme mit der Brennstoffversorgung hatte, fälschte er den Wetterbericht, damit seine Bürger weniger heizen – die Rumänen haben deswegen damals nicht weniger gefroren. Wir werden heute kein höheres Bildungsniveau erreichen, wenn wir Die Räuber als Comic verschleudern. Zwischen acht Prozent der Schulabgänger, die jedes Jahr in Deutschland die Schulen ohne einen Abschluss verlassen, und einem Viertel der erwachsenen Deutschen, die laut Stiftung Lesen überhaupt keine Bücher mehr lesen, besteht ein Zusammenhang und der heißt: wollen!

(PS.: Es geht beim Lesen nicht um Selbstzweck oder romantische Verklärung von Büchern. Es geht um eine Überlebensfähigkeit: „Die Internationale Erhebung über Grad und Verteilung elementarer Grundqualifikationen Erwachsener (IALS) stellte fest, dass Personen mit höherer Lesekompetenz größere Chancen haben, eine Beschäftigung zu finden und ein höheres Durchschnittsgehalt zu erzielen, als solche mit geringeren Fähigkeiten in diesem Bereich (OECD und Statistics Canada, 2000). … Die wichtigste Erkenntnis lautet, dass die Zukunftsaussichten einer Person auf dem Arbeitsmarkt über den Bildungsabschluss hinaus auch durch das Niveau der Lesekompetenz bestimmt werden.“ Quelle: Lesen kann die Welt verändern, OECD 2002)


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